Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Hana Vu
„Public Storage“
( Ghostly International )

Geprägt von Alternative-Künstler*innen der frühen 2000er- und den Synthie- und New- Wave-SoundsderAchtzigerjahrenutztHanaVu ihr neues Album als Spielwiese. Das Ergebnis: Tracks für jede Gefühlslage. „Anything Striking“ zieht uns in dunkle Abgründe hinab, „Heaven“ holt uns wieder heraus. „My House“ beschreibt einen melancholischen Sonntag zu Hause, „Keeper“ klingt wie ein Tag am Strand. Ruhig und laut zugleich wirkt die neue Platte dieser aufstrebenden US-amerikanischen Künstlerin. Harte Gitarrenklänge werden mit klarer, feiner Stimme kontrastiert, klassische Rockelemente elektronisch-poppig weitergeführt. In ihrer Kindheit ist Vus Familie häufig umgezogen. In dieser Zeit waren Public-Storage-Lagerräume ein oft besuchtes Ziel der heute 21-Jährigen. Dort trafen Alltagsgegenstände auf geliebte Schätze. Die Vorstellung, dass all diese verschiedenen Manifestationen von Erfahrungen, Gefühlen und Erinnerungen an einem Ort zusammenfinden, gab Hana Vu die Idee für „Public Storage“. Das Album fordert, trotz seiner musikalischen Gefälligkeit. Ida Schelenz

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis 

Paula Schopf
„Espacios en Soledad“
( Karaoke Kalk )


Paula Schopf kennt man seit vielen Jahren als Chica Paula oder Chica and the Folder, als DJ und Musikerin/Remixerin auf Gudrun Guts Label Monika. Mitte der 1970er-Jahre verließ Paulas Familie Santiago de Chile und ging ins Exil. Wie viele andere Künstler*innen chilenischer Herkunft fand auch Paula eine neue Heimat im Berlin der Neunzigerjahre: Die Technoclubs und besonders der von Gudrun Gut und Thomas Fehlmann im Tresor veranstaltete „Ocean Club“ boten unendliche kreative Möglichkeiten. Im international orientierten Techno lösten sich etwaige folkloristische musikalische Klischees in Beats und Bässen auf. Seit einigen Jahren widmet sich Paula Schopf der Klangforschung, nimmt Field Recordings im urbanen Raum auf. Auch ihre aktuelle Veröffffentlichung „Espacios en Soledad“ ist eher Hörspiel als Pop- oder Dancealbum: Schopf geht auf akustische Spurensuche in ihrer Geburtsstadt Santiago de Chile, erkundet die sozialen und kulturellen Veränderungen. Stimmungsvoll und spannend. Christina Mohr

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Grace Cummings
„Storm Queen“
( ATO )

Wenn man in Grace Cummings’ Biografie liest, dass sie einst Drummerin einer Band war, die AC/DC-Cover spielte, könnte man beim ersten Hören ihrer Musik verwunderter nicht sein. Denn, was Cummings da auf ihrem zweiten Album „Storm Queen“ zaubert, ist eine umwerfende Mischung aus Blues, irischem Folk und einer Prise Avantgarde. Ihre Musik ist ehrlich, rau und beschert gleichzeitig Gänsehaut. Mit einer Stimme, die wie ein sanftes Reibeisen über das Trommelfell fährt, singt sie mitreißend über das Leben, die Liebe und den Schmerz. Dazu werden Instrumente wie Piano, Geige oder sogar ein Theremin minimalistisch eingesetzt, um eigentlich nur Cummings’ roughe Stimme zu unterstreichen. So beginnt das Album im Song „Heaven“ direkt mit einem herzzerreißenden Aufschrei „There’s no world we live in/I’ve just discovered Heaven/Where a man is nothing / And the air is something“, um einen über elf Songs nicht mehr loszulassen. Die Schwere, die einsetzt, wird mit jedem Song fortgesetzt und selbst durch die Stücke „Up In Flames“ und „Freak“ kaum unterbrochen, sondern bis zum Ende dieses einzigartigen Albums aufrechterhalten. Ava Weis

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Mitski
„Laurel Hell“
( Dead Oceans, VÖ: 04.02. )

Mitskis sechstes Album ist benannt nach einem undurchdringbaren Gestrüpp. Ein Sinnbild: 2019 kündigte die Musikerin auf unbestimmte Zeit eine Auszeit von Livekonzerten an. Die Öffentlichkeit kann genauso toxisch sein wie ein Laurel Hell: Betörend, aber eine gefährliche Falle, heißt es im Pressetext. Jedenfalls: Es ist 2021 und Mitski ist zurück. „Laurel Hell“ ist nicht „Puberty 2“ und auch nicht „Be The Cowboy“. Die Texte bleiben bekenntnishaft und introspektiv. Wer den Indie-Rock-Appeal der früheren Alben vermisst, kommt mit „Laurel Hell“ nicht auf seine*ihre Kosten – quirky Synths müssen reichen. Diese sind teilweise überraschend, oft aber auch schlagerhaft. Der Banger des Albums ist „Stay Soft“, genauso poppig wie die Vorabsingle „The Only Heartbreaker“ und weniger düster als „Working For The Knife“. Mitski kritisiert den Kapitalismus, es geht natürlich auch um Liebe und Traurigkeit, Themen, an denen sie sich schon weniger vorhersehbar abgearbeitet hat. „Laurel
Hell“ ist wie ein Treffen mit einem*einer alten Schulfreund*in: Man freut sich, fragt, wie es geht, aber eigentlich ist alles wie immer. Nicht besser, nicht schlechter, alle sind immer noch dieselben. Franziska Schwarz

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Tara Nome Doyle
„Værmin“
( Martin Hossbach / Modern Recordings / BMG, VÖ: 28.01. )

Tara Nome Doyles zweites Studioalbum, „Værmin“ gibt dem Wort „Ohrwurm“ eine neue Bedeutung – es lädt Blutegel, Würmer und Co. ein. Jeder Song trägt den Namen eines Tieres, das als Schädling angesehen und verdrängt wird. Damit folgt die Künstlerin der Thematik ihres Debüts: der Psychoanalyse. Das Album reflektiert den Zerfall der Psyche in „Persona“ und „Schatten“ nach C. G. Jung. Am Beispiel einer zerbrechenden Beziehung untersucht Doyle emotionale Abgründe, die – wie Ungeziefer – unterdrückt werden. Statt der Finsternis zu entfliehen, wagt sich die Sängerin hinein und entdeckt dabei ihre Schönheit. „Værmin“ ist ein von Gegensätzen geprägtes Album. Die Songs bewegen sich zwischen Licht und Schatten, sind aber niemals nur eins der beiden. „You’re like a moth drawn to my pain“, singt Doyle mit rauer schmerzgeladener Stimme in „Moth“, um kurz darauf in „Spider“ mit gehauchten Tönen zu umgarnen. Begleitet von orchestralen Arrangements, warmen Pianomelodien und Synthie-Elementen taucht Tara Nome Doyle tief in menschliche Emotionen ein. Das musikalisch und lyrisch anspruchsvolle Album hüllt sich auch nach wiederholtem Hören in eine geheimnisvolle Aura. Liv Toerkell

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Molly Nilsson
„Extreme“
( Night School / Dark Skies Association, VÖ: 15.01. )


Die schwedische Synthie-Pop-Musikerin, die mit ihrer nebligen Stimme und ihren melancholischen, aber kraftvollen Songs seither reflektiert, was auf dieser Erde vor sich geht, erschafft in „Extreme“ wieder eine empowernde Welt. „Das Album der Hymnen für die im Stich gelassene Generation“, sagt uns, dass wir nicht allein sind. Mit schweren Gitarrenakkorden und grandiosen Drum-Machines startet die Lead-Single „Absolute Power“ direkt mit einer programmatischen Zeile: „It’s me versus the black hole at the center of the galaxy“. In „Fearless Like A Child“ wiederholt Nilsson: „I love my womb, come inside I feel so alive“, in „Sweet Smell Of Success“ zollt sie Audre Lorde mit den Worten Tribut: „They’ll praise your efforts, they’ll call you slurs a rebel, a master, an amateur / Merely with your own existence, you already offer your resistance.“ Molly Nilssons Musik baut intersektionale Brücken, arbeitet mit unterschiedlichen Emotionen, die nicht abgewertet, sondern für den kreativen Prozess fruchtbar gemacht werden. Wütend und voller
Liebe ist „Extreme“ vor allem eine Platte über Macht. Darüber, wie man dagegen ankämpft, wie man sie annimmt und wie man sie teilt! Merve Namlı

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Cat Power
„Covers“
( Domino )

Obwohl Cat Power als eine der großartigsten Songwriterinnen gilt, hat sie sich für dieses Album ausschließlich bereits existierende Songs vorgeknöpft und neu interpretiert. „Covers“ ist dennoch absolut ikonisch und stilistisch sicher. Die Stimme ist weich, fern und voller Emotionen, leise Echos und wabernde Chöre unterstreichen die Melodie und dazu eine reduzierte Instrumentierung. Die schlichte und besonders vokale Inszenierung der Titel könnte also nicht stärker nach der Musikerin selbst klingen. Auch die Auswahl ist außergewöhnlich und gut kuratiert: Cat Power bringt moderne Popheld*innen wie Frank Ocean oder Lana del Rey mit irischem Folk von den Pogues zusammen und lässt die gegensätzlichen Stile einander beeinflussen. Alte Held*innen, neue Held*innen und trotzdem gibt sich Cat Power nicht der männlich dominierten Welt des Geniekults hin. Jeder Titel gehört einzig und allein ihr. Wer auf große Hits wartet, hat weit gefehlt. Denn die Musikerin hat sich nicht auf die Singles gestürzt, sondern auf die Titel, die ihr lieb sind, etwas bedeuten und über depressive Episoden hinweg geholfen haben. Dass ihre durchlässige, teilweise gebrochene Stimme daher emotionaler denn je klingt, liegt auf der Hand. Besonderes Highlight ist das Cover ihres eigenen Songs „Hate“, den Cat Power in „Unhate“ umbenannte. Rosalie Ernst

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Siv Disa
„Dreamhouse“
( Trapped Animal Records )

Die Pforten des Traumhauses öffnen sich und Siv Disa lässt uns hereinspazieren. Auf dem Cover ist das DIY-„Dreamhouse“ buchstäblich zu sehen, dabei sollen die neun Songs des Debütalbums eher im übertragenen Sinne als Räume fungieren. Raum wird hier für vieles geschaffen: von Trennungserfahrungen und dem Abschiednehmen wie im Opener „Whistle“ über euphorisch-psychedelische Epiphanien wie in „Painted Ceiling“ bis hin zur schwermütigen Popballade „Sorry“ über menschliche Verbindungen und Verletzungen. Das alles und noch viel mehr passt hervorragend unter ein Dach. Siv Disa, die aktuell Musikkomposition in Island studiert, beschreibt ihre Musik selbst als Avant-Pop und begreift sich mehr als Kuratorin und Keyboarderin denn als Sängerin. Ihre Songs folgen nicht unbedingt der klassischen Songstruktur, sie fließen vielmehr vor sich hin und wir können uns so beim Hören und Erkunden zurücklehnen und mittragen lassen. Der wegweisende Sound der Platte ist dabei poppig, psychedelisch angehaucht und immer wieder mit kleinen elektronischen Arrangements versehen. Wer sich in Zeiten von Homeoffice und Homeschooling also gerne mal in ein anderes Heim wegträumen mag, ohne die eigenen vier Wände verlassen zu müssen, kann hier Unterschlupf finden. Nicole Dannheisig

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Meskerem Mees
„Julius“
( Mayway Records / SONY )

Die meisten Newcomer*innen werden in Ermangelung eines besseren Wortes als „spannend“ bezeichnet. Bei Meskerem Mees ist das eine gnadenlose Untertreibung. Ihr Debütalbum „Julius“ ist auf das erste Hören hin zwar erst mal eine klassische Singer/Songwriter-mit- Gitarre-Platte, weist jedoch eine beträchtliche Sammlung an wundervollen Perlen mit geschickten Lyrics auf. So sind „The Writer“, „Blue And White“, „Queen Bee“ und das temporeiche „Where I’m From“ momentan dringend notwendige Feel-Good-Songs. Bei den restlichen Stücken wie „Man Of Manners“ oder „Joe“ schafft Meskerem Mees es, nur mit Gitarre und Stimme sowie dem ein oder anderen Streichinstrument eine so verträumte Atmosphäre zu schaffen, dass man nicht nur beim „Song For Lewis“ die Realität vergisst, wenn Mees „I might be dreaming of reality“ singt, sondern die ganze Zeit gedanklich weit, weit weg driftet. Wenn man es wieder zurück ins Hier und Jetzt geschafft hat, sind auch die verspielten, gerne in schwarz-weiß gehaltenen Musikvideos sehr zu empfehlen. „Seasons
Shift“ ist eine einzige bewegte Collage. Dass die frisch gekürte Gewinnerin des Montreux Jazz Talent Awards 2021 nächstes Jahr auf Europa-Tour geht, passt da wunderbar und lässt auf gemütliche und erfüllende Konzertabende hoffen. Ava Weis

 

Missy Magazine 01/22, Musikrezis

Cate Le Bon
„Pompeii“
( Mexican Summer, VÖ: 04.02. )

Was es heißt, von der Außenwelt isoliert zu arbeiten, wusste Cate Le Bon schon lange vor Ausbruch der Pandemie – und sie wusste diesen Prozess auch sehr zu schätzen. Denn immer wieder, wenn sich die Musikerin aus dem walisischen Cardiff in der Vergangenheit an ein neues Album gesetzt hat, zog sie sich dafür zurück, weit weg von Freund*innen und Familie, in eine stille Kammer. Dort töpferte sie Becher oder baute Stühle, woraus schließlich LPs wie „Mug Museum“ und „Reward“ entstanden sind. Immer wieder lief vor oder neben dem musikalischen Schaffen also noch ein anderer Kreativprozess, der ihre Songs bedingte. „Das frischt meine Beziehung zur Musik wieder auf“, erklärt Le Bon. „Und durch diese Auszeiten kann ich mich viel besser auf das einlassen, was ich gerade bzw. warum ich es tue.“ Doch ihr sechstes Album „Pompeii“ während des Lockdowns zu schreiben, war auch für die im Alleinsein geübte Künstlerin eine Herausforderung. Wie konserviert unter Vulkanasche, in einer Art Vakuum, komponierte Le Bon auf ihrem Bass Lieder, die ebenso unmittelbar wie philosophisch vom Leben erzählen. „The fountain that empties the world / Too beautiful to hold“, singt sie über glasierte Saxofonklänge. Es sind diese kühlen Eighties-Art-Pop-Arrangements, die an Talk Talk erinnern und den Raum behutsam durchleuchten. Eine meisterhafte Momentaufnahme! Vanessa Wohlrath

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/22.