Text: Debora Antmann
Illustration: Rahel Süßkind

Ich liege nachts wach und frage mich, wer ich eigentlich wäre, wenn ich nicht jüdisch wäre? Was wäre anders an mir? Ich arbeite samstags, vergesse die meisten jüdischen Feiertage, von einigen weiß ich nicht mal so genau, was zu feiern wäre. Ich esse Schwein, wenn mir danach ist (selten, sehr, sehr selten). Ich spreche kein Hebräisch, bin nicht religiös, habe seit Jahrzehnten Gemeinden nur als Begleitung oder Touristin von innen gesehen. Ich trage mein Haar sichtbar (bin eh nicht verheiratet), bin keine Bundistin[1], kenne keine sephardischen[2] Lieder auswendig oder jiddische Geschichten so aus dem Stegreif. Ich bin nicht in Israel geboren, was für viele Deutsche das Synonym für jüdisch zu sein scheint, kann keine mizrachischen[3] Gedichte, hatte keine Bat Mizwa[4], kann mich nicht an Machane[5] erinnern. Was ist also das Jüdische an mir? Sind es die Albträume? Die drei riesigen Koffer, die ich packe, wenn ich für ein verlängertes Wochenende das Land verlasse? Die Lücken in meiner Familienbiografie? „Wer wäre ich, wenn ich nicht jüdisch wäre?“ ist auch die Frage nach: Was ist das Jüdische an mir? Ist die Frage: Darf ich mich jüdisch nennen, wenn ich auf der deutschen Checkliste mehr Felder unangekreuzt lassen muss, als dass ich Häkchen setzen kann? Wer wäre ich, was bliebe, wenn ich das Jüdische an mir abziehen würde? Die Antwort ist: N I C H T S.

© Rahel Suesskind

Denn alles an mir ist jüdisch. Mein Jüdisch-Sein ist kein Ad-on, das ich wie eine Kippa auf meinen Kopf setze. Es durchdringt mich in allem, was ich bin. In den großen und kleinen Dingen. Mein Jüdisch-Sein ist der Moment, wenn ich mit jemandem spreche und Wir-zwei-Beide bonden. Über ein Gefühl, ein Wort, ein Verständnis, einen Blick, eine Erfahrung. Mein Jüdisch-Sein ist, in einem Raum voller Gojim zu sein und auf den einen Gedanken zu kommen, auf den sonst niemand der Anwesenden kommt. Mein Jüdisch-Sein ist, ein Buch zu lesen und Welten zwischen dem Geschrieben zu entdecken, die dort nie angedacht waren. Mein Jüdisch-Sein sind die Stolperer und tragisch-humoresken Drehungen und Windungen meiner Familie. Mein Jüdisch-Sein sind Schätze in meinem Wissen und in meiner Wahrnehmung, von denen ich nicht einmal weiß, dass sie existieren. Mein Jüdisch-Sein kann bedeuten: gelegentlich, versehentlich über den einen oder anderen dieser Schätze zu stolpern. Oder in voller Anstrengung zu versuchen, sie in archäologischer Akribie vorsichtig Stück für Stück freizulegen. Mein Jüdisch-Sein ist wie Liebe und Liebeskummer gleichzeitig. Wie Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen, Vorhersehung und Nicht-Wissen in einem. Es ist wie Luft, die mich durchströmt – etwas, das in mir ist, das ich freisetze und einsauge, Teil von mir ist, von mir wird und mich verlässt, aus all meinen Poren dringt. Mein Jüdisch-Sein ist leise, wie ein Wispern, eine vage Vermutung, ein unbewusster Reflex, ein lautes Tosen, gelernte Anstrengung, eine fremde Galaxie in mir, ein noch fremderes Universum so weit von mir entfernt, dass ich es niemals greifen werden kann. Mein Jüdisch-Sein ist eine Idee und Planlosigkeit, alle Ideen auf einmal, alles, was ich denke, und nichts, was in meinen Gedanken vorkommt. Mein Jüdisch-Sein ist Angst, vor mir, vor dem Nicht-genug-Sein, vor dem Zu-viel-Sein, vor dem Falsch-Sein, vor den anderen und vor meinesgleichen. Mein Jüdisch-Sein ist Versöhnung mit mir, mit dem Nicht-genug-Sein, mit dem Zu-viel-Sein, mit dem Falsch-Sein und mit meinesgleichen. Mein Jüdisch-Sein ist Wut auf jene, die mich nicht genug, zu viel, falsch fühlen lassen. Auf jene, die mir Angst machen, uns bedrohen, uns nachts wach liegen und Checklisten abhaken lassen mit der Frage: Darf ich mich überhaupt jüdisch nennen?

Mein Jüdisch-Sein ist Chaos. Immer gewesen. Aber auch Liebe. Keine Ahnung für wen, aber ich teile sie gerne mit euch, die ihr nächtens wach liegt und euch fragt, ob ihr sein dürft, wer ihr seid: Jüd*innen.

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

[1] Der Bund ist eine jüdisch-politische Organisation.

[2] Als Sephardim/sephardische Jüd*innen werden Jüd*innen bezeichnet, deren Vorfahren bis zu deren Vertreibung auf der iberischen Halbinsel lebten. Die meisten von ihnen siedelten sich im Osmanischen Reich und in Nordwestafrika an.

[3] Mizrachim/mizrachische Jüd*innen gilt als Bezeichnung für Jüd*innen aus Westasien und Nordafrika.

[4] Bat Mizwa ist die Feier der religiösen Mündigkeit von jüdischen Mädchen mit zwölf Jahren und eher ein Ritus der Reformgemeinden. In orthodoxen Gemeinden haben oft nur die Jungen mit 13 Jahren eine Bar Mizwa.

[5] Machane ist ein jüdisches Feriencamp.