Missy Magazine 02/22, Musikrezensionen,Musikrezis, Sea Changee

Sea Change
„Mutual Dreaming“
( Shapes Recordings/Stereo Sanctity )

„Mutual Dreaming“ ist ein Album ständiger Bewegung. Das ist nicht zuletzt Sea Changes alias Ellen Sundes schnellem, intuitivem Schaffensprozess für ihr bislang drittes Werk geschuldet. Sie selbst sagt, ihr Anspruch sei sogar antiintellektuell gewesen. Gefühl und Emotion, nicht Rationales oder Durchdachtes habe sie gelenkt. Die im Vorhinein ausgeklügelten Konzepte und die charmanten Popklänge ihrer zwei Vorgängeralben hat die Norwegerin dabei hinter sich gelassen. Das Endergebnis ist jedoch kein haltloser Klangflickenteppich, denn die Stärke des Albums liegt genau in diesem Impuls – sich treiben zu lassen. Intuitiv und explorativ, eigentlich schon impressionistisch erscheint „Mutual Dreaming“ als ein trüber Niesel gehauchter Worte und dumpfer, auf eigene Weise tanzbarer Elektronika. Noch luftigleicht zu Anfang mutiert die kühle Aura des Albums im Verlauf zu einem brachialeren Sound – es zischt und wummert, bis die Songs an verschrobenen Klangelementen und voranpreschendem Bass überzuquellen drohen. So ziehen bei den ineinander übergehenden Songs „Mirages“ und „Mutual Dreaming“ erst rauschende Synths wie ein Unwetter auf, entgleiten dann aber zu einem vom fordernden Bass dominierten Track. Louisa Neitz

 

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Ebow
„Canê“
( Tmnit Ghide )

„Canê“ (kurdisch: Seele) hält Tracks für Demos, Dates und Moshpits parat und bleibt trotzdem schlüssig. Immer politisch, oft witzig und teilweise sinnlich nimmt die Rapperin Ebow uns mit in ihren Alltag. Lines über strukturellen Rassismus wie „Einzelfälle / bis jeder hier stirbt“ treffen auf humorvolle Provokationen wie „Flows so hot / alle werden lesbisch“. Die Beats pendeln zwischen Oldschool und R’n’B – und sind immer mega! Herausragend ist der Track „Prada Bag“. In einer Ansprache wird die oft gestellte Frage „Warum geht es im Rap immer um teure Autos und glänzende Uhren?“ ein für alle Mal beantwortet: Ebow erklärt, warum kapitalistische Statussymbole wie teure Taschen für PoC ein Mittel sind, um sich in einer Gesellschaft, die sie als Menschen zweiter Klasse behandelt, abseits von Studiengängen oder hochrangigen Jobs Respekt zu verschaffen. „Das Traurige daran ist, dass du mehr Respekt vor dem Kapitalismus an mir hast als vor mir selbst. Aber deswegen flexe ich mit jedem Cent. Nicht für euch, nein, nein, für mich selbst“, sagt sie. Krissi Kowsky

 

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KAINA
„It Was A Home“
( City Slang )

Die eigenen Traumata in berührenden, leidenschaftlichen Soultracks zu verarbeiten gelingt KAINA mit ihrem zweiten Full-Length-Album „It Was A Home“, das auf dem Berliner Label City Slang erscheint – was eine kleine Sensation ist, schließlich lebt die Sängerin und Producerin mit venezolanisch-guatemaltekischen Wurzeln in Chicago. Die R’n’B-Szene der nordamerikanischen Metropole beeinflusst KAINA ebenso stark wie die Musik verschiedener Communitys, was sich z. B. im spanisch gesungenen „Casita“ ausdrückt. Songs wie „Anybody Can Be In Love“ oder der Titeltrack sind großer, klassischer Soul, einerseits das Motown-Erbe ehrend, aber definitiv dem Hier und Jetzt verpflichtet. KAINAs Stimme ist warm und voluminös, hat definitiv Souldiven-Potenzial, aber KAINA nimmt sich selbst nicht allzu ernst: Das witzige, tanzbare „Apple“ verweist auf KAINAs Liebe zur „Muppet Show“ und anderen typischen US-Serien, die ihre Kindheit prägten und einen fröhlichen Gegenpol zu Ausgrenzung und Rassismus boten, dem ihre Familie ausgesetzt war. Wie groß KAINAs Credibility ist, zeigt sich nicht zuletzt in den Gast-Features des Albums: Sleater-Kinney geben sich im roughen Soultrack „Ultraviolet“ die Ehre, Helado Negro ist in „Blue“ zu hören, im von Oldschool-Jazz angehauchten „Good Feeling“ ist der angesagte Rapper und Produzent Sen Morimoto dabei. Christina Mohr

 

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Poppy Ajudha
„The Power In Us“
( Virgin, VÖ: 22.04. )

Mit kraftvollen Beats, souliger Stimme und einer Bandbreite von Instrumenten präsentiert Poppy Ajudha ihr Debütalbum: „The Power In Us“ gleicht einem Manifest, das zum Widerstand aufruft. Der bereits erschienene Titel „London’s Burning“ rechnet mit britischer Kolonialpolitik und Brexit ab und ist als Protestsong für die Black-Lives-Matter-Demos nicht mehr wegzudenken. Rassismus, Feminismus, Jugendaktivismus, Klimapolitik, mentale Gesundheit – Ajudha lässt kein wichtiges Thema aus. Die Themendiversität spiegelt sich musikalisch: Von fuzzy Rockgitarrenklängen, HipHop-Beats, Autotune-Effekten bis hin zu Saxophonmelodien (gespielt von der Londoner Jazz-Ikone Nubya Garcia) ist alles vertreten. „Dieses Album besteht aus all den Dingen, die mir im Kopf herumschwirren“, erklärt die 25-jährige Londonerin. Delay-Effekte wie in „Land Of The Free“ untermauern ihre Aussage, das Echo ihrer Generation. In ihren Texten verdeutlicht sie schonungslos die bittere Realität patriarchaler und neokolonialistischer Strukturen mit einer lauten Forderung nach Beteiligung am Kampf für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit sowie nach dem Ausbrechen aus auferlegten Stereotypen. Carina Scherer

 

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Jenny Hval
„Classic Objects“
( 4AD )

Wenn die Norwegerin Jenny Hval ein neues künstlerisches Werk erschafft, dann lohnt es sich, diesem besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Egal, ob sie eine musikalische, literarische, visuelle oder performative Ausdrucksform wählt, verbindend
sind feministische Themen, die mal expliziter und mal impliziter zutage treten. Auf ihrem achten Album zeichnet
Hval eine Landkarte von konkreten wie fiktiven gedanklichen Orten. Zurückgezogen, ohne Auftrittsmöglichkeit, war auch sie eine Künstlerin ohne Kunst und ganz auf sich fokussiert. Dies nutzte sie, um die Skurrilitäten des Alltags in großartige Lyrics zu packen. Mal gesprochen wie in „Cemetery Of Splendour“ oder fast rezitativ gesungen in „Classic Objects“. Ihre Stimme scheint über den Tracks zu schweben, während sie von leeren Pubs in Melbourne erzählt oder von Heiratsanträgen auf einem ihrer Konzerte. Die Klänge sind leise und entfalten ihre Wirkung auch dadurch. „Jupiter“ lässt Hval ganze vier Minuten ausklingen und „Cementery Of Splendour“ schließt mit einer Minute Field-Recordings. Vielfältigkeit und Komplexität des Albums sind beeindruckend, auch weil es Hval gelingt, dass nichts übertrieben gekünstelt klingt, sondern einfach nach ganz großer Musik. Lina Niebling

 

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Park Jiha
„The Gleam“
( Glitterbeat Records )

Meditation muss man manchmal aushalten können. Auch, wenn ein wuchtiger Gong geschlagen wird und man aufschreckt. Und in dieser Manier muss man die hohe Frequenz zu Beginn von „The Gleam“ aushalten. Wie Sonne, die zu stark ins Gesicht scheint, die Sicht erschwert. Genauso erschwert dieses Geräusch, eine Melodie zu erkennen. Aber sie ist da – bedrohlich, bewegend, behutsam. „The Gleam“ ist ein Konzeptalbum der süd- koreanischen Komponistin und Musikerin Park Jiha. Fünfzig Minuten und acht Tracks lang nähert sie sich avantgardistisch dem sich stets verändernden Tageslicht – und der daraufhin einsetzenden Nacht. Den Ursprung fand „The Gleam“ bei einer Performance in einem Bunker, den der renommierte japanische Architekt Ando Tadao designte. Dafür entstand das facettenreiche „Temporary Inertia“, welches das Album beschließt. Fast poppig ist „A Day In …“, das Wärme und Lebensfreude transportiert, sanft dagegen „Nightfall Dancer“. Park Jiha nutzt für ihre Kreationen nur eine Art Oboe („Piri“), ein Saenghwang (abgebildet auf dem Albumcover), ein Yanggeum (Hackbrett) und ein Glockenspiel. Zwischen klassischen Partien, Jazz-Sounds und Soundtrack-Momenten („Sunrise: A Song Of Two Humans“ ist tatsächlich die Musik für einen Schwarz-Weiß-Stummfilm desselben Namens) liegen immer wieder Atempausen. Simone Bauer

 

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Mavi Phoenix
„Marlon“
( LLT Records )

Nicht nur persönlich, sondern auch musikalisch hat sich bei Mavi Phoenix in den letzten Jahren sehr viel getan. „Marlon“ ist ein wunderbares, intimes Album – HipHop-Indie ohne Handbremse. Aus Rap wurde Gitarre („Accountable“), ohne Angst vor Lowkey-Produktion. Autotune mit Wiedererkennungswert ist genauso dabei wie Hooks, die wie gewohnt nicht loslassen. 15 Songs sind unerwartet viele, nicht jeder Track reißt sofort mit, aber auch die Nicht-Sing- les auf „Marlon“ passen ins Gesamtbild. Eine Konstante im Maviverse ist der lang jährige Kollaborateur Alex the Flipper. Dass die beiden bis heute ein gutes
Team sind, zeigt z. B. „Venice Beach“. Der Sound bleibt unverwechselbar und das Konzept geht auf: „Marlon“ will man mehrmals hören, das Album funktioniert als Gesamtes, auch die bereits veröffentlichten Singles begeistern im Zusammenspiel noch mal neu. Besonders „Tokyo Drift“, in dem alles zusammenkommt, was Mavi Phoenix ausmacht: Ohrwurm-Baselines, ungewöhnliche Strukturen und coole Texte. Franziska Schwarz

 

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 Banks
„Serpentina“
( AWAL, VÖ: 08.04. )

Geschmeidig, gelassen und galant – so eröffnet Banks ihr neues Album und auch eine neue Ära. Nachdem sie sich bereits auf drei Alben verschiedensten Frauenfiguren angenommen hat, inszeniert sich die Musikerin nun als „Serpentina“. Aalglatt ist das Album trotzdem bei Weitem nicht, und sie zeigt einmal mehr mit ihrer einzigartigen Stimme, dass Konformität absolut nicht ihr Ding ist. Hat sich Banks vorher doch immer wieder an dem großen weiten Begriff „Pop“ abgearbeitet, spielt die kalifornische Sängerin nun deutlich präziser mit den Genres. Aus dem eher diffusen Soundmix stechen nun klare HipHop-Momente, Soul-Facetten und gefühlvolle Balladen hervor, die das Profil der Musikerin schärfen. „Serpentina“ ist gleichzeitig der Weg aus einer ernsthaften Lebenskrise: Das Ende der letzten Tour traf nicht nur mit der Pandemie zusammen, sondern auch mit einem Wirbelsäulenbruch und einer Autoimmunerkrankung, was Banks in ein tiefes Loch stürzte. Durch das Songwriting hat sie sich jedoch immer wieder hochziehen können. Während Banks gerade für ihre üppigen Kollaborationen bekannt war, hat sie für dieses Album die Fäden auch am Mischpult nur selten aus der Hand gegeben. „Serpentina“ ist von der ersten bis zu letzten Note von einer Stärke geprägt, die so noch nicht in Banks’ Musik spürbar war. Rosalie Ernst

 

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Charlotte Adigéry & Bolis Pupul
„Topical Dancer“
( DEEWEE )

Go back to your country where you belong! Charlotte Adigéry und Bolis Pupul haben diesen Satz tanzbar gemacht und auf ihrem Debütalbum Gedanken zu kultureller Aneignung, Sexismus, Social-Media-Eitelkeiten und Postkolonialismus über Pop-R’n’B-Synth-Tracks gelegt. Die Texte greifen Gespräche auf, die das Duo in den letzten beiden Jahren auf Tour geführt hat, und spiegeln ihre Perspektiven als Belgier*innen mit migrantischem Familienhintergrund. Die Mischung aus ironisch-gesellschaftspolitischen Catchlines, auserzählten Geschichten und poppigen Beats sprengt Genreerwartungen. Mit rassistischen Äußerungen wird sich klug und verspielt auseinandergesetzt und ihnen so die
Kraft geraubt … beleidigenden Bullshit bashen durch Beats! Und auch musikalisch haben die Songs es in sich, sind eingängig, sind Disco, ohne einem Schema zu folgen. Mal klingt es sphärisch, mal fast ruppig, dann scheint Adigéry ein Duett mit einem kleinen drolligen Roboter zu singen, bis sie den vorletzten Song schließlich gar nicht mehr singt, sondern ihn lacht. Sollte das nach Klamauk klingen: Nein, ist es nicht, aber lustig und auch ein bisschen poetisch. Dass die Sounds dabei manchmal wackeln, ist gewollt: „We like to fuck things up a bit.“ Yala Pierenkemper

 

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Kae Tempest
„The Line Is A Curve“
( Virgin )

Kae Tempest schreibt Romanbestseller, Gedichtbände und Theaterstücke. Mit „The Line Is A Curve“ legt Tempest das bereits vierte Studioalbum vor. Die*der Musiker*in und Autor*in versteht das Werk als zusammenhängend und wechselt lediglich die Ausdrucksform. Wie auch auf den vorherigen Alben hat Tempest mit lang jährigen Weggefährt*innen aus der Heimat in Southeast London zusammengearbeitet. Die Zeit des Lockdowns nutzte Tempest, um die bereits geschriebenen Songs weiterzuentwickeln. Für die Aufnahme ging Tempest ins Studio und performte für eine ausgewählte Person das gesamte Album am Stück. Das Ergebnis ist umwerfend. „The Line Is A Curve“ atmet Tempests gewohnte Vehemenz und Intensität, doch neben dem bisher dominanten narrativen Charakter der Stücke spielt die Musik eine größere Rolle, Gastmusiker*innen übernehmen Parts. Die starken Lyrics gewinnen dadurch nur noch an Kraft. Neben Wut und Entschlossenheit sind neue Zwischentöne hörbar. Es geht um Resilienz und Akzeptanz und im letzten Song „Grace“ wird es gar zart und emotional. Erstmals zeigt der*die Künstler*in sich auf dem Cover, fotografiert von niemand Geringerem als Wolfgang Tillmans. Amelie Persson

 

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Sanni Est
„Photophobia“
( Eigenveröffentlichung )

Die Paläste zerstört, die westlichen Werte obsolet und das Patriarchat abgeschafft: Das audiovisuelle Intro von „Photophobia“ entwirft
eine neue Welt nach der Apokalypse ohne Scham und Angst für rassifizierte, kolonialisierte und marginalisierte Menschen. „Photophobia“ ist ein introspektives Gesamtwerk der Künstlerin Sanni Est, das mit dem gleichnamigen Album abschließt. Das Mammutprojekt umfasst Texte, Performances sowie Videoarbeiten, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren entstanden sind. Was als Zurückweisung von Kolonialismus, Eurozentrismus und der normativen Geschlechterordnung anfing, wandelte sich in eine audiovisuelle Selbstbeobachtung. Ihr Aushandlungsprozess stößt immer wieder auf Widersprüche, die Sanni Est nicht auflöst, aber zusammenführt: Komposition und Gesang vereinen den Einfluss ihrer klassischen Ausbildung am Konservatorium mit musikalischen Einflüssen wie Forró, Manguebeat und Drag. Der erste Track „Gregorianni“ schafft durch elektrisches Surren, liturgischen Gesang und pointierte Triangel-Schläge eine spirituelle Atmosphäre. Entlang der neun Tracks entfaltet sich experimentelle elektronische Musik und Trauma wird zur ästhetischen Waffe. Nadine Schildhauer

 

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Tanya Tagaq
„Tongues“
( Six Shooter Records )

Durch Tanya Tagaqs
Brustkorb streift ein
wütendes Tier. Die Zähne gefletscht und die Klauen geschärft, ist es bereit, durch ihre Lippen zu springen, um ihr Wertvollstes zu verteidigen: „Touch my children and my teeth welcome your windpipe!“ Das ruft sie ihrem „Colonizer“ und all denjenigen zu, die schweigend zuschauten, als Hunderte von First-Nations-Kindern in kanadischen Umerziehungslagern („residential schools“) Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts nicht nur Kultur und Sprache, sondern ihr Leben verloren. Als eine der profiliertesten Kehlkopfsängerinnen weltweit verleiht Tagaq auf ihrem fünften Album den „Tongues“ ihrer Vorfahren einen sich durch alle Timbres windenden Körper und entfesselt ihren Groll. Spoken-Word-Punk wird von unheildrohendem Hecheln getragen, stolze Worte stapfen zwischen sich hetzjagenden Beats. Durch das Album verstreut flattern Zitate aus ihrem 2019 erschienenen Roman „Eisfuchs“, einer Erzählung über die Folgen kolonialer Unterdrückung am kanadischen Polarkreis: den Alkoholismus, die Suizide und die Tristesse bei minus fünfzig Grad, dem Tagaq die unverwüstliche Stärke der Inuit-Frauen, ihren Zusammenhalt und die wärmende Magie ihrer Folklore gegenüberstellt. „Tongues“ ist ein radikal persönliches, durchaus auch zartes Zeugnis von Tagaqs eigenem Überlebenskampf. Sonja Ella Matuszczyk

 

Emily Wells
„Regards To The End“
( Thesis & Instinct, VÖ: 01.04. )

2019 sagte die US-Musikerin Emily Wells, dass sie gerade über die mögliche Beziehung zwischen Aids bekämpfenden ACT-UP- Aktivist*innen und der Klimakrise nachdenke. „Was können wir von ihnen und ihren Bruchstellen, Siegen, Herangehensweisen und ihrer Kunst lernen? Wie und wann werden wir kämpfen, als ob unser Leben davon abhinge?“ Tja, bald kam Corona. Auf ihrem elften Album „Regards To The End“ nun verarbeitet die Wahl- New-Yorkerin diese Fragen. Türmt Gesang, Synthies, Drums, Klavier, Streich- und Blasinstrumente auf und widmet ihre zehn Songs Künstler*innen, die mit Aids und Umwelt zu tun haben/hatten. Der Starter „I’m Numbers“, ein sinistres Opus voller Chöre und Hall, ist Jenny Holzer und Félix González-Torres gewidmet. Letzterer schuf Installationen z.B. aus Süßigkeiten für seinen Partner Ross, beide starben an Aids. Holzer steuerte zum NYC Aids Memorial ein Textstück bei. In dem reduzierten Song „The Dress Rehearsal“ grübelt Wells, ob die Corona- Pandemie eine Art Generalprobe für den Klimawandel sein könnte, und fragt: Kann die Liebe uns retten? Well. Der kraftvollste Song „Love Saves The Day“ voller Geigen und Wut ist dem LGBT-Anwalt David Buckel gewidmet, der sich 2018 verbrannte, um gegen Umweltzerstörung zu protestieren. Barbara Schulz

 

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Jana Horn
„Optimism“
( No Quarter ) 

Die texanische Singer-Songwriterin Jana Horn wollte dieses Album erst gar nicht veröffentlichen, hatte sogar schon ein anderes aufgenommen, das ihr besser erschien. Doch als sie die Songs von „Optimism“ mit ein paar Musikfreund*innen zusammen spielte, fühlten sie sich gut und richtig an, dem Release stand nun nichts mehr im Wege. Das ist ein großes Glück: Horns Lieder sind zurückhaltend instrumentiert, gerade in den ersten Stücken hört man nicht mehr als eine zart gezupfte Gitarre, ein paar leise Trompetentöne und Horns faszinierende Texte, die von Raymond Carvers Short Storys inspiriert sind. Anders als bei der
mit ähnlich reduziertem Instrumentariumagierenden Emma Ruth Rundle klingen Horns Stücke aber nicht deprimierend und verloren, eher ein bisschen rätselhaft mit leicht optimistischer Note. Ungefähr ab der Mitte des Albums gesellt sich ein sanfter, aber unüberhörbarer Country-Touch hinzu, noch immer leicht gedämpft, aber mit merklich mehr Drive und Akzenten von Hammondorgel und E-Gitarre. Der gewagteste und schönste Song ist „Jordan“: Die mit biblischen Motiven ausgeschmückten Lyrics tänzeln auf einem bassgetriebenen, stolpernden Rhythmus, der sich von der heimeligen Stimmung des restlichen Albums deutlich abhebt. Es wäre wirklich zu schade gewesen, wenn Jana Horn „Optimism“ unter Verschluss gehalten hätte. Christina Mohr

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/22.