Text: Franziska Heinisch
Illustration: Rahel Süßkind

Gestern war der 01. Mai, Kampftag der Arbeiter*innenbewegung. Ein weiteres Jahr geht dieser Tag vorbei, und ein Ende des Kapitalismus ist nicht in Sicht. Schöne Scheiße.

Ich verbinde diesen Kampftag mit meiner eigenen Politisierung, mit Ohnmacht und Wut, aber auch mit der Sehnsucht nach einer Welt, in der die Entscheidungsmacht über unsere Lebensverhältnisse in den Händen aller liegt. Und doch erinnert mich der 01. Mai, so kämpferisch wir auch auftreten, auch immer wieder daran, dass die Zeit der großen Gewinne längst vorbei ist und das Sprechen über „Klasse“ oder gar „Klassenkampf“ selten mehr als Symbolik und Nostalgie ist. Zumindest scheint es häufig so.

Denn die historischen Errungenschaften einer Arbeiter*innenbewegung, die sich für ihre eigenen Interessen organisiert, die ihre eigenen Lebensverhältnisse in die Hand nimmt, die sich den Status quo nicht gefallen lässt – das alles wirkt entrückt und weit weg. Capitalist Realism lautet der Zustand, in dem wir drohen zu versinken. Darin kämpferisch und widerständig zu sein, verkommt dabei manchmal zur Formsache, nach dem Motto: Irgendjemand muss es ja machen. Ich habe unzählige Abende mit Freund*innen in WG-Küchen, auf Balkonen, in Kneipen und an U-Bahn-Gleisen zugebracht, in denen wir darüber diskutiert und gegrübelt haben – und gar nicht so selten auch kurz an der Frage verzweifelt sind –, wie wir denn endlich wieder mal gewinnen können. Und trotzdem haben wir uns, glaube ich, manchmal auch ein paar Antworten gegeben.

Franziska Heinisch

Franziska Heinisch, geboren 1999, ist in Hagen am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen. Als sie noch dort lebte, wollte sie Profifußballerin werden. Jetzt ist sie Autorin und Aktivistin an der Schnittstelle zwischen Klima- und Arbeitskämpfen. Sie hat die Organisation Justice is Global Europe mitgegründet. Diese will mit Methoden des transformativen Organizings stärkere Allianzen zwischen der Klimabewegung und den Beschäftigten in fossilen Industrien aufbauen. Franziska schreibt über Klimakrise, Kapitalismus, Arbeitskämpfe und Feminismus - immer mit sozialistischem Ausblick. 2021 erschien ihr Buch „Wir haben keine Wahl. Ein Manifest gegen das Aufgeben". Sie lebt in Berlin.

Denn schließlich gibt es immer wieder auch Momente, in denen es rumort. Beispiele, an denen deutlich wird: Da geht noch was. Ereignisse, die mich realisieren lassen: Wir können gewinnen – entgegen allen Vorzeichen. Es ist möglich, dass wir die eigenen Arbeitsbedingungen verändern, dass wir über unsere Lebensverhältnisse selbst entscheiden, dass wir uns die Vereinzelung, die Ohnmacht und die Resignation nicht weiter gefallen lassen und sie in Wut und Hoffnung umwandeln. Zwei dieser Beispiele begleiten mich im Nachgang des diesjährigen 01. Mai: zum einen die Errungenschaften der feministischen Bewegung in Argentinien, zum anderen die Arbeitskämpfe von Gesundheitsarbeiter*innen in Berlin und NRW.

© Rahel Süßkind

Als die neue Bundesregierung verkündete, den Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch abschaffen zu wollen, brach zunächst einmal Jubel aus. Dieser Paragraf normiert bislang ein sogenanntes Werbeverbot für Abtreibungen. Doch so positiv die Streichung von 219a zu bewerten ist: Der Paragraf 218 bleibt bestehen – und damit der eigentliche Tatbestand, der Abtreibungen kriminalisiert und damit die Versorgungslage für ungewollt Schwangere dramatisch verschlechtert. Auch die Weltlage stimmt nicht gerade positiv. Das Abtreibungsrecht wird weltweit durch reaktionäre Regierungen vielerorts verschärft – sei es in Polen, in Texas oder in Alabama. Ausgerechnet in dieser Zeit ist es der feministischen Bewegung in Argentinien gelungen, dem etwas entgegenzuhalten. Sie hat den Zugang zu Abtreibungen als soziale Frage politisiert, sie hat Massen mobilisiert und konnte so 2020 das Recht auf Abtreibung durchsetzen. Damit haben die argentinischen Feminist*innen die vorherrschenden Kräfteverhältnisse umgekehrt – und der feministischen Bewegung weltweit Hoffnung gegeben.

Ein anderes Beispiel ist der Sieg der Berliner Krankenhausbewegung. Im vergangenen Jahr haben Beschäftigte an den Berliner Kliniken Personalregelungen durchgesetzt, mit denen gute Versorgung von Patient*innen und gute Arbeitsbedingungen möglich sind. Der Bewegung ist es durch beispiellose Organisierung und Streiks an den Berliner Krankenhäusern gelungen, dreißig Jahre Ökonomisierung und Sparpolitik im Gesundheitswesen umzukehren. Vor allem aber hat sie geschafft, was in Arbeitskämpfen selten (geworden) ist: Die Berliner Arbeiter*innen haben eine Mehrheitsbewegung in den Betrieben aufgebaut – und alle Räume von der Forderungsfindung bis zur Verhandlung kollektiviert und so demokratisiert.

Die Berliner Bewegung ist so z. B. für Gesundheitsarbeiter*innen und Arbeitskämpfe weltweit geworden – und auch in Deutschland. Motiviert durch den Sieg der Berliner Bewegung machen sich aktuell Gesundheitsarbeiter*innen an sechs Unikliniken in NRW auf, um menschenwürdige Pflege und gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Jetzt werden sie in den unbefristeten Streik treten, um menschenwürdige Pflege und gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Hier lehnen sich Gesundheitsarbeiter*innen gegen die jahrzehntelange Ohnmacht auf, die eigene Arbeit unter immer höherem Zeit- und Kostendruck ausüben zu müssen. Sie nehmen nicht weiter hin, dass es die Fürsorge, die sie leisten und die so zentral für unsere Gesellschaft ist, immer weiter zum Sparpreis geben soll. Und sie legen ihre Arbeit nieder, um eine gute Gesundheitsversorgung, die wirkliche Fürsorge zulässt, selbst in die Hand zu nehmen. Wenn diese Bewegungen weiter ins Rollen kommen und die nächsten Gewinne erstreiten, dann können sie das Gesundheitssystem auf den Kopf stellen. Care-Revolution, feministische Meilensteine, könnte man das nennen. Arbeitskampf, sagen andere. Am Ende ist es dasselbe. Denn es gibt keine Care-Revolution ohne Arbeitskampf.

Die genannten Beispiele geben für mich Antworten darauf, wie wir Kämpfe gewinnen können: Der Erfolg der argentinischen feministischen Bewegung war das Ergebnis jahrelanger Organisierung, Basisarbeit und Mobilisierung, in der Aktivist*innen das Recht auf Abtreibung als soziale Frage politisierten. Und auch die Bewegungen an den Krankenhäusern kommen nicht aus dem Nichts, sondern sind das Ergebnis tiefgreifender Organisierung. Dabei nehmen diejenigen, die von einem durch und durch neoliberalisierten Gesundheitssystem am stärksten betroffen sind, diejenigen, deren Körper, deren Leben zur Verhandlung steht, diesen Umstand nicht weiter hin. Sie schließen sich zusammen, und sie lehnen sich auf. Eine kollektive Identität entsteht, ein Gefühl, die eigenen Interessen durchsetzen zu können. Menschen, die weit außerhalb der aktivistischen Bubbles leben, politisieren sich, werden zu Anführer*innen ihrer eigenen Bewegung, eignen sich die Räume an, in denen sie leben, arbeiten, ausgebeutet und unterdrückt werden. Tagtäglich.

Die Bewegungen lehren uns, wie wir Klassenkämpfe gewinnen können, und zeigen: Die feministische Bewegung gehört an die Haustüren, an die Streikposten, an und in die Betriebe. Dorthin, wo sie Menschen begegnet, deren Interessen wir ins Zentrum stellen sollten. Diese Beispiele sorgen dafür, dass ich dieses Jahr nicht mit einem Gefühl der Resignation, sondern mit Hoffnung in die Tage nach dem 01. Mai gehe.

In diesem Sinne: heraus zum 02. Mai, zum 03. Mai, zum 04. Mai. Denn jeden Tag können wir die Grundsteine legen, um morgen Kämpfe zu gewinnen. Natürlich muss die Welt um uns herum nicht so bleiben, wie sie ist. Es muss überhaupt gar nichts so bleiben, wie es ist, wenn wir das nicht einfach so hinnehmen. Oder um es mit den Worten der Intensivpflegerin Anja Voigt, eine der Führungspersönlichkeiten der Berliner Krankenhausbewegung, zu sagen: „Wenn wir uns organisieren, können wir die ganze Welt verändern. Wir fangen mit unseren Arbeitsbedingungen an.“