zwei Personen, eine im Rollstuhl, eine weitere mit Krücke, in einer Sprechblase steht. Hilfe nehme ich gerne an, wenn ich danach gefragt werde. Auf dem gelben Hintergrund des Bildes steht der Satz: Fähig sein ist ein kapitalistischer Anspruch, der nicht erfüllt werden kann. © Bär Kittelmann
© Bär Kittelmann

von Marie Minkov

In den Top Ten der peinlichsten Dinge im Alltag steht bei mir, um Hilfe zu fragen nach wie vor ganz weit oben. Um Hilfe fragt nur, wer hilfsbedürftig ist, dem eine Aufgabe zu viel ist und der bereit ist, sich zu seinem Scheitern zu bekennen: „Ja, es ist wahr, ich kann das nicht allein.“ Noch schlimmer ist es, wenn einem ungefragt geholfen wird, nach dem Motto: „Du hast zwar nichts gesagt, aber dass du diese Aufgabe nicht selbst erledigen kannst, ist offensichtlich.“

Als Kind wurde mir ständig geholfen, ob ich wollte oder nicht. Meine Taschen wurden mir abgenommen und die Treppen hochgetragen, mal wurde ich die Treppen hochgetragen. Zur Schule wurde ich von meiner Schwester gebracht, den Rollstuhl, den ich damals noch nutzte, mussten Klassenkamerad*innen die Treppen des Schulgebäudes hochhieven, ständig wurde mir irgendwas gebracht oder abgenommen, ohne dass ich darum gebeten habe. Menschen begannen, mich zu beobachten, um den Moment abzupassen, an dem sie einspringen und mir zu Hilfe eilen konnten. Das tun sie auch heute noch.

Letztens saß ich an einer Bushaltestelle. Der Bus fuhr vor, ich nahm meine Krücken, um aufzustehen, als ein fremder Mann zu mir eilte, und seine Hand unter meinen Arm schob, um mir unnötigerweise aufzuhelfen. „Das geht schon“, sagte ich, bemüht, möglichst ruhig und gefasst zu klingen, um zu zeigen, dass ich die Situation unter Kontrolle habe. „Nein, ich helfe Ihnen.“ „Das ist nicht nötig.“ Er zog mich hoch, seine Hand unter meinem Arm, quasi in meiner Achsel, und machte Anstalten, mich zum Bus zu bringen, was mir das Laufen enorm erschwerte, weil sein Griff mich daran hinderte, meine rechte Krücke zu benutzen.

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.

Von solchen Geschichten kann ich Hunderte erzählen. Eine Person, die im Einkaufsladen in der Schlange meint, dass ich nicht so lange anstehen kann, und durch den Laden brüllt: „Machen Sie bitte eine zweite Kasse auf, hier steht eine mit Krücken!“ Eine Person, die mir den Weg zur Rolltreppe blockiert und sagt: „Der Fahrstuhl ist auf der anderen Seite.“ Das Personal im Louvre, das mich vor dem Treppenhaus abpasst, „come with me“ murmelt, und mich zu einem Fahrstuhl begleitet. Die Person im Prüfungsamt, die mich davon abhält, ein Formular aus dem Regal zu holen, mit den Worten: „Warten Sie, ich hole es Ihnen, ich habe ja keine kaputten Beine.“ Die Person im Park, die meine Schwester anblafft: „Solltest du deiner Begleitung nicht ihren schweren Rucksack abnehmen?“ Die Person neben mir auf der Bank, die mir sagt, ich soll meine Beine beim Sitzen nicht überschlagen, das sei ungesund. Das Personal in der Bib, das mir rät, nächstes Mal eine Freundin zu bitten, mir meine Bücher abzuholen, damit ich nicht selbst losmuss, damit ich mich nicht so „quälen“ muss. Die Liste ist endlos.

Weil mir diese Dinge die ganze Zeit und schon fast zwei Jahrzehnte lang immer wieder passieren, und weil viele Menschen schon bei meinem Anblick davon ausgehen, dass ich Hilfe brauche, ist es doppelt schwierig für mich, tatsächlich um Hilfe zu fragen. Denn um Hilfe zu fragen ist wie die Bestätigung: „Ja, ihr hattet alle recht, ich kann das wirklich nicht.“ Es gab Zeiten, da hätte ich lieber mein Getränk auf dem Boden verschüttet, als jemanden darum zu bitten, es mir zum Platz zu tragen. Ich hätte mich lieber dreißig Minuten in der S-Bahn auf wackeligen Beinen an eine Haltestange geklammert, als jemanden um einen Sitzplatz zu bitten.

Dabei ist es nicht so, als würde ich nie Hilfe brauchen. Im Gegenteil, in manchen dieser Situationen hätte ich sie vielleicht sogar gerne angenommen, wenn sie mir nicht aufgezwungen, sondern ich einfach gefragt geworden wäre. Zwischen „Soll ich das für dich übernehmen?“ und „Ich übernehme das für dich“ liegen Welten. Heute frage ich um Hilfe, auch wenn es mir immer noch irgendwie peinlich ist und ein Teil von mir denkt, ich würde mich zu meinem Scheitern und meiner Unfähigkeit bekennen. Dabei ist „fähig sein“ ein kapitalistischer Anspruch, der nicht erfüllt werden kann, uns aber dazu animieren soll, uns kaputtzuarbeiten, uns durchzuboxen und nicht zuzugeben, wenn es zu viel wird. Hilfe anzubieten, ohne übergriffig zu sein, um Hilfe zu fragen und Hilfe zuzulassen, steht dem entgegen. Um Johanna Hedvas „Sick Woman Theory“ zu zitieren: „Aufeinander und sich selbst achtzugeben ist der antikapitalistischste Protest, den es gibt.”