von Franziska Heinisch

Trifft man auf fremde Menschen, dann unterhält man sich über alles Mögliche. Eine Auswahl möglicher Themen: das Wetter, die Pandemie, die allgemeine Situation des Seins, vor kurzer Zeit gelesene Bücher, die Musik im Radio, die Verspätung der Bahn. Und Politik? Lieber nicht. Ich finde: doch, klar, unbedingt! Ein paar Gespräche, die mir im Kopf geblieben sind – und ein Ausblick darauf, wozu wir sie brauchen.

Eine Person sitzt auf dem Dach eines Taxis. Eine Taxifahrerin, eine Bäckerin und ein Arzthelfer sagen gemeinsam: So wie es ist, kann es nicht bleiben!
© Xueh Margrini Troll

Drei Uhr morgens. Ich stehe am Straßenrand, warte. Schließlich kommt ein Auto, das rechts blinkt – und ich steige ein ins Taxi. Lasset den Smalltalk beginnen, denke ich noch. „Geht’s nach Hause?“, fragt die Frau im Fahrersitz vor mir. Ich schüttele den Kopf, murmele nur vor mich hin: „Muss arbeiten.“ „Um diese Uhrzeit?“ „Ja, schon, aber du ja auch, oder?“ „Tja, scheiße ist das. Aber ich hab eine Familie zu ernähren und nachts gibt’s gutes Geld.“ Die Taxifahrerin fängt an zu erzählen. Wie ungerecht sie es findet, dass sie das machen muss. Dass ihre Kinder zu Hause schlafen, während sie fremde Menschen durch die Nacht der Großstadt fährt. „Natürlich“, sagt sie, „würde sie gerne etwas anderes machen. Aber so spiele das Leben eben nicht.“ Sie erzählt: „Manchmal fühle ich mich wie gefangen. In diesem Auto, im Alltag, und das mitten in dieser Welt. Während alles an mir vorbeizieht, sitze ich in dieser Kiste, bewege mich entlang vorgezeichneter Linien auf dem Asphalt, denke darüber nach, was die Zukunft noch bringt für mich. Ob sie etwas bringt für mich.“ Ich weiß nicht, was ich antworten soll, und nicke deshalb nur mit Nachdruck in den Rückspiegel. Danach sprechen wir noch etwas weiter. Schließlich sagt sie: „Jetzt habe ich dich gar nicht gefragt. Was genau machst du überhaupt?“ Wir werden unterbrochen von der Navi-Ansage: „Bitte links abbiegen. Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Ich muss aussteigen und bleibe ihr eine Antwort schuldig. Wobei: Das Navi hat es fast schon treffend zusammengefasst.

Ich laufe zu Gleis drei, von dem mein Zug heute abfahren soll. Zur Taxifahrerin von gerade eben gesellt sich in meinen Gedanken die Verkäuferin in der Bäckerei, mit der ich vor ein paar Jahren gemeinsam gearbeitet habe. Jeden Tag musste sie um zwei Uhr aufstehen, Arbeit bis um elf, dann nach Hause, Kinder abholen, Kinder betreuen, schlafen. Wieder aufstehen um zwei, und das Gleiche noch mal, jeden Tag. Wenn der erste Schwall schlaftrunkener Menschen sich irgendwann ab 6:30 Uhr mit Backwaren und Kaffee eingedeckt hatte, konnten wir manchmal eine halbe Stunde einfach sprechen. Dann ging es um Politik, um Ungerechtigkeit, um ihren, meinen, unseren Anspruch an die Welt. Häufig waren wir uns einig: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Aber bevor wir genauere Pläne schmieden konnten, kam meistens die nächste Welle an müden und hungrigen Kund*innen. „Einfach kaputt machen“, beendete die Verkäuferin manchmal unsere Gespräche. Ob sie damit sich selbst oder die Verhältnisse um uns herum meinte, blieb offen.

Franziska Heinisch

Franziska Heinisch, geboren 1999, ist in Hagen am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen. Als sie noch dort lebte, wollte sie Profifußballerin werden. Jetzt ist sie Autorin und Aktivistin an der Schnittstelle zwischen Klima- und Arbeitskämpfen. Sie hat die Organisation Justice is Global Europe mitgegründet. Diese will mit Methoden des transformativen Organizings stärkere Allianzen zwischen der Klimabewegung und den Beschäftigten in fossilen Industrien aufbauen. Franziska schreibt über Klimakrise, Kapitalismus, Arbeitskämpfe und Feminismus - immer mit sozialistischem Ausblick. 2021 erschien ihr Buch „Wir haben keine Wahl. Ein Manifest gegen das Aufgeben". Sie lebt in Berlin.

Das sind Beispiele aus dem Alltag, vermeintlich weit entfernt von organisierenden Gesprächen, die die Grundlage legen für Community Building, Bewegung, Protest, Machtaufbau. Doch Gespräche wie diese verdeutlichen, wie persönlich die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, sich auswirken. Sei es in der Frage, zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis Menschen ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen müssen. Oder wie viel Leben noch bleibt neben dem Geldverdienen, damit es zum Leben gerade so reicht. Diese Gewissheit und Deutlichkeit bahnt sich schon durch Alltagsgespräche ihren Weg. Wir sollten das nicht ungenutzt lassen.

Denn Unterhaltungen wie diese sind Anknüpfungspunkte. Nicht jede und nicht überall, aber wenn sie sich systematisieren lassen und in einem bestimmten Umfeld geführt werden, können sie Nährboden sein. Wollen wir an den gesellschaftlichen Verhältnissen rütteln, müssen wir den Weg dahin beschreiten. Um nachhaltig Veränderung zu schaffen, braucht es Beziehungen, „bei denen man sich gegenseitig den Rücken deckt“, schreibt eine Gruppe von Organizer*innen in ihrem Buch „Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin“. Wer politisch organisieren will, kommt somit um Beziehungsarbeit nicht herum. Wir müssen zunächst persönlich werden – und dann kollektivieren. So beginnt politische Veränderung. Mietenkämpfe oder bahnbrechende Signale wie der Sieg von Deutsche Wohnen und Co enteignen in Berlin beginnen mit dem ersten Aushang im Flur, um sich über Mieterhöhungen und Wohnbedingungen auszutauschen. Große, erfolgreiche Arbeitskämpfe wurzeln im ersten Gespräch über gemeinsame Arbeitsbedingungen. Politisierung beginnt, wo vermeintlich individuelle Erfahrungen zu einer gemeinsamen Realität werden – und Menschen anfangen, Anspruch darauf zu erheben, dass es anders wird.

Schließlich ist die Angst davor, keine Wohnung zu finden oder die Miete nicht zahlen zu können, kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches. Prekäre Jobs sind kein Resultat von individuellem Versagen, sondern eine strukturelle Notwendigkeit im Kapitalismus. Arbeit unter katastrophalen Bedingungen sind der Tausch, den wir im kapitalistischen System eingehen, wenn wir unsere Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Die elementaren Bedürfnisse, die Menschen haben – nach Sicherheit, freier Zeit, Teilhabe am Leben –, werden torpediert von einem System, in dem ihnen kein oder kaum Wert zugesprochen wird. Das sollte wütend machen – denn, so die Organizerin Jane McAlevey, „sinnvoll gelenkte Wut führt zu einer kämpferischen Organisation“.

Sonntag, zehn Uhr. Ich erhalte eine Nachricht von einer Pflegekraft an einer der Unikliniken, die gerade streiken. Mit ihm habe ich in den vergangenen Monaten viele Gespräche geführt über die eigenen Arbeitsbedingungen, über seine Wut und Hoffnung, über erste und dann immer wieder nächste Schritte auf dem Weg, sich all das zunutze zu machen. Er ist Anfang dreißig, bis vor ein paar Monaten nicht einmal Gewerkschaftsmitglied, augenscheinlich unpolitisch. Jetzt ist er seit fast einem Monat im Streik. Vor der obligatorischen Demo zum 01. Mai fragt er mich, ob man da einfach so hingehen könne. Ich bejahe und biete an, ihn zu begleiten. Irgendwann auf der Demo verliere ich ihn kurz aus den Augen. Als ich ihn wiederfinde, komme ich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er in eine Kamera spricht. Erst noch etwas schüchtern, dann immer selbstbewusster. Warum er am 01. Mai auf der Straße ist, wird er gefragt. Und antwortet: „Ich will einfach Zeit mit Menschen verbringen, die meine Interessen teilen.“ Etwas nachgeschoben folgt: „die Teil meiner Klasse sind.“ Ich schmunzle und frage mich, in welchem unserer Gespräche wir an diesen Punkt gekommen sind. Die Antwort ist: in keinem. Was es ausmacht, ist die Summe von Gesprächen wie den hier skizzierten, die aneinander anknüpften und in Perspektiven mündeten, Veränderung wirklich selbst in die Hand zu nehmen.

Manchmal überrascht es mich selbst, wie schnell wir von Alltagsgesprächen dann doch beim Kern der Sache sind. Jahrelang wälzt man Bücher über das Verschwundensein kollektiver Organisation. Zerbricht sich den Kopf, um klassenkämpferische Politik jetzt neu, sexy, anders klingen zu lassen, obwohl sie eigentlich immer noch das Gleiche meint. Versucht, die eigene politische Vorstellung in vermeintlich massentauglichere Begriffe und Bilder zu verpacken. Und dann zeigt sich: Wenn die Grundlage stimmt, ist all das nicht notwendig.

22:30 Uhr an einem Freitag. Ich sitze mit einer Beschäftigten im Krankenhaus neben einem der vielen dazugehörigen Gebäude. Wir blicken auf die vielen Fenster, die auch nachts erleuchtet sind. Schließlich wird hier rund um die Uhr gearbeitet. Hinter uns liegt ein langer Tag, der sich jetzt seinem Ende neigt. Wir trinken ein Bier, unterhalten uns. Über die Weltlage, die anstehende Landtagswahl, Politik und das Leben. Nach einer Weile kehrt Stille ein. Pause. Durchatmen. Dann wird die Stille durchdrungen von der Frage aller Fragen. Leise und ein bisschen zögerlich: „Franziska, warum bist du eigentlich Sozialistin?“ Ich blicke auf, nehme noch einen Schluck Bier und setze zu einer Antwort an.