Von Sophia Boddenberg
Fotos: Sofía Yanjarí Aburt

Natalie Arriagada hat mehr als die Hälfte ihres Lebens damit verbracht, für ein gerechtes Chile zu kämpfen. Als Schülerin setzte sie sich für öffentliche Bildung ein, als Gewerkschaftsführerin für bessere Arbeitsbedingungen, als alleinerziehende Mutter für menschenwürdigen Wohnraum. Ihre Tante war Lehrerin und Mitglied der Kommunistischen Partei, sie verschwand während der Pinochet-Diktatur. Damit ist sie eine sogenannte detenida desaparecida (verschwundene Verhaftete) – eine der gefolterten und getöteten politisch Verfolgten. Die 34-jährige Sozialarbeiterin und Sprecherin der Bewegung für menschenwürdigen Wohnraum (Movimiento de Pobladores y Pobladoras Vivienda Digna) läuft über den vom Regen matschig gewordenen Boden eines Grundstücks in der Gemeinde Maipú im Südwesten von Chiles Hauptstadt Santiago, das die Bewegung vor zwei Jahren besetzt hat. „Wir erleben einen Wohnraum-Notstand, viele können die

Missy Magazine 04/22, Reportage
© Sofía Yanjarí Aburto

Miete nicht mehr bezahlen“, sagt Arriagada.

Elf Familien haben sich hier aus Wellblech und Sperrholzplatten provisorische Häuser errichtet, mit bunt bemalten Autoreifen haben sie einen Spielplatz für die Kinder gebaut. In einer Pfütze liegt ein Kinderfahrrad, hier und da ein paar kaputte Fußbälle, ein Kaninchen hoppelt vorbei. Wenn es regnet, steht hier alles unter Wasser. „Ich wurde aus meiner Wohnung geworfen und konnte nichts Bezahlbares zur Miete finden, deshalb bin ich mit meinen Kindern hierhin gekommen“, sagt die vierzigjährige Lisette López Sierra. Sie arbeitet als „recicladora“, sammelt im Müll noch brauchbare Gegenstände, repariert sie und verkauft sie anschließend auf dem Flohmarkt. Seit zwei Jahren ist sie Mitglied der Bewegung für menschenwürdigen Wohnraum. Gemeinsam mit Natalie Arriagada und über zweihundert weiteren Familien kämpft sie dafür, dass auf dem besetzten Grundstück in Maipú Sozialwohnungen gebaut werden. „Es geht nicht nur darum, ein Dach über dem Kopf zu haben, sonder…