Missy Magazine 04/22, Musikrezis

Minru
„Liminality“
( Morr Music )


Minrus Debüt-LP nimmt uns mit auf eine Reise in ein pastellfarben klingendes Traumland, in einen Zwischenraum, oder wie Carl Jung den Zustand des psychologischen Prozesses von Veränderung nennt: „Liminality“. Minru heißt eigentlich Caroline Blomqvist, stammt aus Schweden und hat ihr emotionales Debüt in ihrem Homestudio in Berlin zwischen Instrumenten, Pflanzen und knarrenden Holzdielen selbst produziert. Herausgekommen ist ein solides Folk-Album, auf welchem Minrus federleichte Stimme, eingebettet in Melancholie, Gitarren und Streichelemente, vom Abschied und Neubeginn erzählt. Zu den neun Albumsongs haben u. a. Berliner Indie-Musikerinnen wie Liv Solveig Wagner und Marlene Becher beigetragen – Minrus Verwundbarkeit scheint zu resonieren und wird untermalt von Empathie und Solidarität. Minru lässt die Tür zu ihrer Seele einen Spalt weit offen für all jene, die mal kurz durchatmen und zur Ruhe kommen wollen. Wer Nähe und Weite gleichzeitig fühlen möchte, einen musikalischen Ausflug in die endlosen, ruhigen Landschaften Schwedens gebrauchen kann (Minru schreibt ihre Songs dort in einer Berghütte, wo sonst) und mal wieder ein Album am Stück ganz durchhören möchte, sollte sich „Liminality“ zu Gemüte führen. Vanessa Sonnenfroh

Missy Magazine 04/22, Musikrezis

Yaya Bey
„Remember Your North Star“
( Big Dada )

Gute Geschichten erzählen zu können, ist eine Gabe für sich. Yaya Bey verfügt über dieses Geschick, eigene Erinnerungen und Anekdoten in nahbare, intime Ohrwürmer zu verwandeln.
Ihr Debüt „Remember Your North Star“ erzählt die Geschichte einer Frau, die sich im Dating-Zirkus verliert,
offene Wunden in der Beziehung mit ihrer Mutter zu heilen versucht und gesellschaftlich mit ihrer Identität als Schwarze Frau konfrontiert wird, zu einem sanften Genremix aus R’n’B, Jazz, Afrobeat, HipHop und Reggae. Die 18 Titel sind in eine gedämpfte LoFi-Ästhetik gewickelt, die das Gefühl von Intimität nur noch verstärkt, und befinden sich im Spiel zwischen kurzen Interludes und groovenden Songs. So erzählt „It Was Just A Dance“ innerhalb von 17 Sekunden, wie Bey auf einer Party einen Mann kennenlernte, dieser sich dann auf ihrer Couch einnistete, während sein Handy verdächtig bimmelte. „Keisha“ hingegen besticht mit auf- und abwallenden Synths sowie an Wes Montgomery erinnernden Gitarrenklängen als eine Affirmation des eigenen Selbstwertes, der besteht, ohne andere davon überzeugen zu müssen. In dem Kaleidoskop aus Storytelling, Zugänglichkeit und warmen Klängen staunt man immerzu, wie Yaya Bey ihr Innenleben so wortgewandt offenlegt. Louisa Neitz

Missy Magazine 04/22, Musikrezis

Regina Spektor
„Home, Before And After“
( Warner )

„Home, Before And After“ ist Regina Spektors achtes Studioalbum. Spektors helle Stimme artikuliert Lyrics so klar verständlich, dass ihr Album wie ein gesungener Erzählband klingt. Und das Spektrum reicht von der beiläufigen Kurzgeschichte vom Deli an der Straßenecke ihrer Heimatstadt New York (wohin sie mit neun Jahren mit ihrer Familie aus Russland auswanderte) bis zu Erzählungen von märchenhaften Fantasiewelten auf der Suche nach dem magischen Nektar einer versteckten Blüte. Die Instrumentierung variiert von Track zu Track, hält wuchtige orchestrale Arrangements, minimalistisches Acapella bis zu mitreißenden Refrains bereit und überrascht mit einem Soundeinsprengsel entfernter Kinderstimmen. Die Profimusikerin bleibt ihrem leicht verschrobenen und stets kompromisslosen Stil treu: Wie ein eigenes kleines Musical mutet der knapp achtminütige Track „Spacetime Fairytale“ an, mitsamt klappenden Stepptanzeinlagen, die unmittelbar Bühnenassoziationen wachrufen. „Home, Before And After“ ist ein abwechslungsreiches Album, auf dem Regina Spektor wieder einmal ihre Brillanz unter Beweis stellt. Der rote Faden ist Spektors Stimme – eindringlich und zart zugleich – und die Melancholie ihrer Textzeilen, die nie Depression, sondern Zuversicht vermitteln. Amelie Persson

Missy Magazine 04/22, Musikrezis

Nova Twins
„Supernova“
( Marshall )

Wer sich in den letzten Jahren mit Alt-Rock auseinandergesetzt hat, wird an den Nova Twins nicht vorbeigekommen sein. Mit ihrem genreübergreifenden Ansatz haben sich Amy Love und Georgia South von jeglichen musikalischen Einschränkungen losgelöst und einen Sound kreiert, der sämtliche Konventionen sprengt. Ihr Debüt „Who Are The Girls?“ aus dem Jahre 2020 veränderte schlicht und ergreifend die Musiklandschaft. Darüber hinaus nutzten sie ihre sich rasant vergrößernde Reichweite von Anfang an, um Veränderungen herbeizuführen, und haben sich z. B. dafür eingesetzt, dass es bei den MOBO Awards eine eigene Kategorie für PoC Künstler*innen gibt. Nun erscheint ihr lang ersehntes zweites Album „Supernova“ und, um es einfach auszudrücken, es knallt noch mehr. Das Intro „Power“ zeigt direkt, mit welcher krassen Energie in den weiteren zehn Songs zu rechnen ist. Es folgt eine abgespacte Mischung aus Rock, HipHop, „Nineties-Horror“ und Rap- Punk, die kaum Zeit zum Verschnaufen lässt. Die Singles „Antagonist“ und „K.M.B.“ sind zu Recht schnell gehypt worden, Titel wie „Cleopatra“
und „Choose Your Fighter“ sind allerdings auch mehr als nur hitverdächtig. Wer nach dem knapp dreißigminütigen
Album bei „Sleep Paralysis“ ankommt und keinen Beruhigungstee braucht, hat wahrscheinlich den Ruhepuls einer Galapagos-Schildkröte. Avan Weis

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Nina Nastasia
„Riderless Horse“
( Temporary Residence, VÖ: 22.07. )

Nach zwölf Jahren endlich lässt die in New York lebende kalifornische Singer-Songwriterin wieder von sich hören. Sie konnte nicht; das schwierige Verhältnis zu ihrem damaligen Partner und Mitarbeiter Kennan Gudjonnson, von dem sie sich 2020 trennte und der sich kurze Zeit später das Leben nahm, blockierte sie zu sehr. Quasi als Selbstrettungsmaßnahme beschloss Nastasia, wieder Songs zu schreiben, wozu sie nur mit ihrem Entdecker und Produzenten Steve Albini und Kollege Greg Norman in eine Waldhütte zog. „Riderless Horse“ bezeichnet sie als ihr „erstes Solo- album“, sie verarbeitet in 14 Titeln inhaltlich
die schweren Erfahrungen und die Kontrolle durch ihren Partner, die Isolation und ihre Trauer, aber auch
ihr Empowerment. Dabei klingt es weder unhaltbar traurig noch extrem wütend, im Gegenteil: Einfach mit Gitarre und Gesang entstanden bezaubernde Songs mit eingängigen, genial simplen Melodien – fast wie Traditionals –, die durch raffinierte Produktionsideen noch dazugewinnen. Es gibt wie gewohnt melancholische, langsame Stücke, aber auch heitere, in denen der wiedergewonnene Humor aufblitzt. Ihre Stimme klingt klar und fest, dennoch ahnt man die Verletzungen. Ein wenig erinnert es an das erste „American Recordings“-Album von Johnny Cash. Wie auch dieses, ist „Riderless Horse“ eine taugliche und wunderschöne Trostplatte, gemäß der Absicht Nastasias, auch anderen helfen zu wollen. Imke Staats

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Natalie Beridze
„Of Which One Knows“
( Room40, VÖ: 29.07. )

Ach, Sehnsucht! „I’m kissing you now / across a gap of thousand years“ – diesen Satz der russischen Dichterin
Marina Zwetajewa schreibt die georgische Künstlerin Natalie Beridze zu Beginn ihres
siebten Werkes und gibt damit die Stimmung vor. Denn die neun Stücke und Skizzen von 2007 bis 2021 klingen nicht so crazy-verspielt wie der Vorgänger „Mapping Debris“ von 2021. Und: Es gibt keine Beats. Stattdessen legt die auch als tba oder Nate Fisher bekannte Musikerin, die nach Jahren in Deutschland wieder in ihrer Heimatstadt Tbilisi lebt und dort Komposition und Musikproduktion unterrichtet, den pandemie- und kriegsgeplagten Zuhörer*innen eine warme Decke aus Klängen um, nur selten mit Stimme, wie im schönen Opener „Ash Wednesday“, in dem Beridze Passagen aus T. S. Eliots Gedicht zitiert, oder beim verspulten „Door Part II“, das – kurios – vor „Door Part I“ erklingt. Das traurige Klavierstück „X It“ könnte einen Siebziger-Gangsterfilm untermalen, und das düster-hibbelige „Forensic Of The Thread“ ist wohltuend ungeordnet, mit nervösem Klavier, rauen Streichern, ein Mäandern, Staunen, Ausfransen, Zischen und Schaben. Das Ende, „Sadness“, ist genau das. Wer Natalie Beridze noch nicht kennt, sollte sich auch ihr famoses Video „For Love“ (2016) anschauen, da sieht man sogar schon die getöpferte Hand, die eine echte Hand auf dem Cover von „Of Which One Knows“ ergreift. Ach, Sehnsucht! Barbara Schulz

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Jasmyn
„In The Wild“
( Anti-Records )

Nachdem Jasmyn Burke 2020 ihre Band Weaves verließ, beschloss sie, künftig „lebensverträglichere“ Musik zu machen – wie das gemeint ist, zeigt die kanadische Musikerin und Sängerin auf ihrem Solo-Debütalbum „In The Wild“: Gemeinsam mit Producer John Congleton arbeitete Jasmyn an einem variablen, luftigen und dennoch druckvollen Sound, der seine Energie aus Jasmyns Alternative-Wurzeln schöpft, aber mehr stilistische Experimente wie z. B. tanzbare Synthie-Beats zulässt. Tracks wie „Crystal Ball“ oder „Green Nature“ erinnern in puncto Dramatik an Bands wie Sparks und Yeah Yeah Yeahs, „Killer Instinct“ baut auf arabischen Rhythmen auf, „Cruel Moon“ klingt wie ein Stück aus einem überdrehten Achtzigerjahre-Musical. Jasmyns erweiterter kreativer Ansatz zeigt sich auch in den Themen und Texten: Häufig geht es um Natur und Spiritualität, erkennbar schon am Albumtitel, besonders jedoch in Songs wie „Happy Tarot“ und „Galaxy“, in denen Jasmyn ihre eigene Position im Weltgefüge auslotet, aber auch die Verantwortung der Menschheit für die Umwelt anspricht. Im Vordergrund von „In The Wild“ stehen aber definitiv Spaß und die Lust am musikalischen Ausprobieren. So schade es um Weaves ist: Jasmyns Solopfade begleitet man sehr gern. Christina Mohr

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Stella Donnelly
„Flood“
( Secretly Canadian, VÖ: 26.08. )

Leichtigkeit auf den ersten Blick, tiefe Abgründe auf den zweiten: Das zweite Album von Indie-Folk-Star Stella Donnelly ist ganz anders und doch ganz familiär. Während man Stella eher von Gitarrenriffs kennt, hat sie sich für „Flood“ vor allem ans Klavier gesetzt, das sie seit ihrer Kindheit nicht mehr angerührt hatte. Alles erscheint deutlich akustischer, intimer, wärmer. Nicht zuletzt durch das Flügelhorn, das in einigen Songs für ungewohnt bittersüße Harmonien sorgt. Durch die kleinen Wechsel in der Instrumentierung erscheint Donnelly verspielter als je zuvor. Ihre liebliche Stimme wickelt eine*n ein weiteres Mal um den Finger. Man vertraut ihr schnell, wiegt sich in Sicherheit, doch ihre Lyrics sind tiefgründig und ernst wie eh und je. So gibt es nicht wenige Momente, in denen man sich wünscht, die paar Sekunden der Stille nach einem Song würden noch ein bisschen länger anhalten. So z. B. bei „Under Water“, einem Titel über häusliche Gewalt. Entstanden sind die Songs, als Stella einige Zeit im australischen Regenwald verbrachte und während derer sie eine neue Beziehung zu sich und ihrer Musik fand. „Flood“ ist mit all seiner Tiefe ein Album, das vor allem mit sich selbst im Reinen zu sein scheint, und so endet es auf einer positiven Note der Freiheit – einer Freiheit, die sich einstellt, wenn man seine Ängste und Sorgen in den Wind gepustet hat. Rosalie Ernst

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Hayley Kiyoko
„Panorama“
( Warner, 29.07. )

Wer bekommt die letzte Rose und gewinnt die Show? Das Ziel der TV-Sendung „Bachelor“ macht Liebe zur
Ware, die man sich quotenreich erspielt, was wiederum viele Verlierer*innen zurücklässt. Die queere
US-Popsängerin Hayley Kiyoko, die mit der Ex-„Bachelor“-Teilnehmerin Becca Tilley liiert ist, persifliert im Video zu „For The Girls“ die Überbietungsmentalität und macht den Boss- Move, indem sie im „Bachelor“-Ambiente eine Inklusionshymne entstehen lässt. Denn „Summer’s for the girls, the girls that like girls / The girls that like boys / the girls …“! Der Sonnencreme-Pop mit springendem Beat à la „Feel It Still“ (Portugal the Man) reiht sich gekonnt als Sommerhit-Anwärter ein. Die 31-Jährige, die von ihren Fans den Spitznamen „Lesbian Jesus“ bekommen hat, ist eine wichtige Stimme gegen die Reproduktion von Stereotypen über lesbische Beziehungen. Auf „Panorama“, ihrem zweiten Album, kann sie jedoch an die starke „For The Girls“-Botschaft nicht durchgängig anknüpfen und verliert sich zeitweise in einer generischen Soundkulisse. Die letzten zwei Tracks „Found My Friends“ und „Panorama“ sind beeindruckende Ausnahmen. Ersterer wühlt mit 80er-Synthiepop auf und besingt Gemeinschaft als Halt für mentale Gesundheit und der Titelsong weckt eine*n mit dröhnenden Keyboardeinlagen vom passiven Blick auf das Handy auf. Yuki Schubert

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Ezra Furman
„All Of Us Flames“
( Bella Union, VÖ: 26.08. )

Ein Feuersturm kommt auf uns zu, der alles gehörig durcheinanderwirbelt – und Ezra Furman ist seine Prophetin. Von nichts weniger als Revolution handelt „All Of Us Flames“, ihre erste Platte, seit sie sich 2021 als trans Frau outete. Einmal mehr zeigt sie sich als überragende Songwriterin und liefert ein kratziges Garage-Rock-Album voller mitreißender Melodien und Hymnen über queeren Widerstand. „Forever In Sunset“ etwa, die Vorabsingle, ist ein Musik gewordener Befreiungsschlag: Furmans raue, ungezügelte Stimme kämpft sich durch getriebene Strophen, ehe sich die Spannung in einem Killer-Refrain entlädt. Den Song und das Video über zwei Freund*innen, die füreinander da sind, durchströmt ein „Wir gegen den Rest der Welt“-Vibe, der auf dem ganzen Album zu spüren ist. So träumt sie in „Lilac & Black“ von einer anarcho-feministischen queeren Girl Gang, die die Straßen unsicher macht, und feiert in „Temple Of Broken Dreams“ eine Community, die auch über Distanzen hinweg zusammensteht. Die Revolution, die Furman meint, ist ebenso zärtlich wie radikal. Sie gibt sich mit „Pinkwashing“ nicht zufrieden, sondern fordert nachhaltige Veränderungen: „What do your bright flags do?“, singt sie zum Abschluss in „Come Closer“, „what do your rainbows do here on the ground“? Gegen die Angst vorm Einfrieren hilft nur Weiterbrennen – also auf in den Kampf, Kamerad*innen! Eva Szulkowski

Missy Magazine 04/22, Musikrezis

Maggie Rogers
„Surrender“
( Universal, VÖ 29.07. )

Wütend, so sollte das neue Album „Surrender“ werden. Schlussendlich hört es sich nun aber doch nach „feral joy“ an, wie Maggie Rogers es selbst beschreibt. Gelungen ist es auf jeden Fall: Das übersetzt sich in rockige, energiegeladene Hymnen, die sich mit Akustiksongs abwechseln (in „A Different Kind Of World“ gibt’s eine Symbiose). Die Platte klingt befreit und mehr badass als die Vorgängerin „Heard It In A Past Life“. Maggie scheint keine Angst mehr davor zu haben, Raum einzunehmen. Das fließt auch in ihren neuen Sound, geprägt von pulsierenden Drums und Synthie-Elementen, die sich dröhnend ausbreiten. Den zwölf Titeln haftet die Sehnsucht nach Live-Konzerten und danach, den Bass am Schlüsselbein zu spüren, an: In manchen Tracks pusht Maggie ihre Stimme so stark, dass sie über den verzerrten Gitarrenriffs beinahe bricht. Thematisch geht’s um Sex, Freund*innenschaft, Aufbruchstimmung und alle Aggregatzustände an Gefühlen, vom Liebesrausch bis zur ursprünglich angedachten Wut, die in Lyrics wie „Now I do my best to not be bitter / and give my rage a babysitter / still waiting for the adults to come home“ („Begging For Rain“) aufblitzt. „Surrender“ klingt gleichzeitig nach purer Energie und Ausruhen, nach verschwitzten, durchgetanzten Nächten und dem Ausloten von Lust und Loslassen. Alisa Fäh

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Hatis Noit
„Aura“
( Erased Tapes )

Es fühlt sich fast falsch an, über Hatis Noits Musik zu schreiben, denn die Avantgardekünstlerin aus Hokkaido, Japan, benutzt ihre Stimme, um genau die Gefühle einzufangen, für die es eben keine Worte gibt. Ihr Debütalbum „Aura“ besteht aus acht Songs, die allein von Gesang getragen werden. Dabei singt Hatis Noit aber kein einziges Wort, sondern findet Emotionen in abstrakten Klängen und spielerischen Stimmexperimenten. Inspiriert von polyphonen Gesängen, traditionellen Gagaku-Melodien aus Japans höfischer Musiktradition, jedoch auch von Avantgardeproduktionen, wie denen der Künstlerin Meredith Monk, findet Noit eine Ausdrucksweise
jenseits von Sprache. Das Resultat ist transzendental und neuartig. Mit vielschichtigen Gesangsspuren schafft
Hatis Noit einen Resonanzraum, der sich musikalischen Konventionen entzieht. Wie ein warmes Vakuum, ein leichtes Kitzeln der Schwerkraft im Bauch oder eine Berührung so sanft, dass sie kaum fühlbar ist, legt sich der Zauber von „Aura“ über Hörende. Mit nur einem einzigen Instrument, ihrer Stimme, kreiert Noit ein anmutiges Klanguniversum, in das man zunächst langsam hineinwaten muss, um sich dann auf einmal ohne Sand unter den Füßen im Meer von Emotionen treibend zu finden. Liv Toerkel

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700 Bliss
„Nothing To Declare“
( Hyperdub, VÖ: 29.07. )

Mit Präzision schneidet Moor Mothers Stimme immer wieder in die dröhnenden Bässe von DJ Haram und seziert Alltagskämpfe, Rassismus, Waffengewalt sowie die Kluft zwischen Arm und Reich. Bevor Camae Ayewa alias Moor Mother unweigerlich zur großen Wutrede ansetzt, gewähren die ersten Tracks auf dem Debütalbum „Nothing To Declare“ des Duos 700 Bliss eine Verschnaufpause mit Lafawndahs effektüberzogenen Vocals im Song „Totally Spies“ sowie mit Orion Suns sanftem R’n’B-Gesang in „Nightflame“, bis ein wummernder Bass einsetzt: In „Anthology“ fährt DJ Haram das Tempo hoch und Moor Mother raunt ins Mikrofon: „I feel like dancing / Like, really dancing“, und verweist mit „The Matriarch Of Black Dance“ auf die Tänzerin, Anthropologin und Bürgerrechtsaktivistin Katherine Dunham. Dass sich 700 Bliss positiv auf afroamerikanische Geschichte beziehen, ist nur konsequent. Beide Künstler*innen engagieren sich seit Jahren in ihren Communitys in Philadelphia. Trotz der historischen und gegenwärtigen Referenzen lässt sich „Nothing To Declare“ nicht als Protest-, Conscious- Rap- oder klassisches Spoken-Word-Album einordnen. Die Tracks sind schwer greifbar, transformieren sich innerhalb von Sekunden und so ist das Album vor allem eines: unberechenbar. Am klarsten kommt das zum Vorschein im Track „Capitol“ mit Vocals von Alli Logout, Frontsänger*in der Punkband Special Interest. Der Track weckt Erinnerungen an den Sturm aufs Kapitol in Washington, umhüllt von Lo-Fi-Störgeräuschen, Cosmic Noise und Shouts von Lagout und mündet in rhythmischen Sprechgesang von Ayewa. „Nothing To Declare“ schafft einen brillanten Balanceakt zwischen politischer Ernsthaftigkeit, Selbstironie, HipHop-Roughness und elektronischer Avantgardemusik. Nadine Schildhauer

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Petrol Girls
„Baby“
( Hassle )

Wenn das Patriarchat mal wieder das Outfit kommentiert, die körperliche Selbstbestimmung torpediert oder Femizide legitimiert, liefern Petrol Girls den passenden Soundtrack zum Rückschlag. Das Post-Rock-Quartett aus Großbritannien und Österreich hat längst keine Lust mehr auf den ganzen Bullshit. „Keep calm and carry on“? Nicht so richtig. Durchhalteparolen werden zu Schlachtrufen. Das war schon vor ein paar Jahren so, als Petrol Girls die Ladyfeste und Punk-Squats rauf- und runtergespielt haben. Das ist noch heute so, wenn sie den Sommer über  mit elf neuen Songs die kleineren Festivalbühnen bespielen. „I’m fucking sick / I’ve been
tired for years“, singschreit Sängerin Ren Aldridge entsprechend.
Trotz der Müdigkeit gelingt ihr das garstig und mit Nachdruck. Man kann hier stumpfe Punk- Parolen raushören, wenn man will („ACAB“ in „Violent By Design“ z. B.). Es gibt aber auch ein paar neue Angebote, die man so selbstbewusst, fast fröhlich wohl eher selten hört: „Baby, I Had An Abortion“. Hier ist zwar nichts komplett undramatisch – das geht schon wegen der aufgebrachten Gitarre gar nicht. Aber die LP „Baby“, mit der Petrol Girls das zehnjährige Bandbestehen begehen, ist an den richtigen Stellen gechillt und an anderen eben angemessen aufgeregt. Der Satz, der diesen Spagat lyrisch auf den Punkt bringt? „I wanna be held, but not held back“.Anna Seidel

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Phoebe Green
„Lucky Me“
( Chess Club Records, VÖ: 19.08. )

Die 13 Songs auf Phoebe Greens Debütalbum ergeben ein Patchwork aus Genres, vergleichbar mit einem Fotoalbum aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Eingeleitet von „Break My Heart“ mit Lyrics wie „No one is getting this fucked up by fun“ gepaart mit kirchlich anmutenden Glocken- und Orgelklängen und dick aufgetragenem Autotune. Gefolgt von dem Titel „Lucky Me“, welcher durch die Verschmelzung von Sprechparts und psychodelisch besetzten Melodien an Kae Tempest und Tame Impala erinnert. Die 24-Jährige aus Manchester liefert außerdem mit „Make It Easy“ einen Hit, der durch Stimmdopplungen, eine eingängige,
loopende Synth-Bassline und lasziven Gesang starke Ähnlichkeit mit Billie Eilish aufweist,
welche Greens Debütsingle „Dreaming Of “ vor einiger Zeit in ihre „In My Room“-Playlist aufgenommen hat. Diese wilde Mischung regt zum Tanzen, aber auch zum Nachdenken an. Viele ihrer Songs handeln von komplexen Beziehungen, alten Wunden und der daraus resultierenden Unfähigkeit, eigene Gefühle ehrlich zu kommunizieren. Sie selbst sagt: „Ich möchte Musik für Menschen wie mich machen. Wenn sie sich darin wiederfinden und weniger albern für ihre Emotionen fühlen, hab ich meinen Job gemacht.“ Wer dieses Album hört, muss offen bleiben, denn selten findet sich eine Platte, die so waghalsig Genres wie HipHop, Teen Pop und Electronica verbindet wie „Lucky Me“. Carina Scherer

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/22.