Staus und Behinderungen von Marie Minkov

Als ich klein war, haben Mama und ich immer viel gewartet. Wartezimmer waren unser zweites Zuhause. Mama konnte dabei nie lange sitzen, lief ungeduldig zur Rezeption, um zu fragen, wie lange es noch dauern würde. Gleichzeitig versuchte sie, mir Geduld zu vermitteln und die Kraft, niemals aufzugeben. Bei jeder neuen Praxis, jeder neuen Behandlung, jedem neuen Medikament galt: Du musst ganz fest an Besserung glauben, nur dann kann sie auch eintreten.

Meine Diagnose war und ist nie eindeutig gewesen. Behinderungen sind selten genau einzuordnen. Ärzt*innen haben nicht immer eine Antwort und wenn, dann unterscheidet sie sich oft von den Antworten der Kolleg*innen, nicht selten widersprechen sie sich. Es gilt also, eine zweite Meinung einzuholen, eine dritte, eine vierte, eine fünfte, bis man noch verwirrter ist, als man es vorher war.

Worin Ärzt*innen sich damals einig waren, war, dass ich in ein oder zwei Jahren wieder „gesund“ werden würde. Es bräuchte nur Zeit, Geduld, Physiotherapie, vielleicht eine Reha und – ganz wichtig – eine große Portion Hoffnung. Schließlich ist alles möglich, wenn man nur daran glaubt.

Marie Minkov

Marie Minkov arbeitet als freie Autorin und Illustratorin und studiert Literarisches Schreiben in Hildesheim. In ihren Texten befasst sie sich mit Behinderung, Norm und Scham und untersucht das Inklusionspotential autobiografischer Texte.
© Rahel Süßkind

Es ist nicht so, als hätte ich es als Kind nicht versucht. Nachts lag ich wach, kniff die Augen zusammen und versuchte, meine Heilung zu manifestieren. Ich müsste nur glauben, glauben, glauben, noch ein bisschen fester, dann klappt die Magie. Ich hatte schnell die Vermutung, dass die Besserung meines Gesundheitszustands in meiner Verantwortung lag und meine Erfolgschancen von meiner eigenen Fähigkeit zu Glauben abhingen. Und die ließ zu wünschen übrig.

Diese Form der Eigenverantwortung ist in der Idee verankert, wir hätten Kontrolle über unsere eigene Gesundheit. Als läge es in unserer Macht, uns vor Krankheiten zu schützen, wir müssen nur genug Wasser trinken, genug Sport machen und uns gesund genug ernähren. Eine Illusion, die auch immer an das Versprechen von Glück verknüpft ist: Wenn du schön, gesund und leistungsfähig bist, dann wirst du auch glücklich sein. Wenn ich endlich geheilt bin, können meine Familie und ich mit dem Warten aufhören, dann kann mein Leben weitergehen.

Das alles ist jetzt bald zwanzig Jahre her. Tatsache ist, dass es Krankheiten gibt, die nicht zu heilen sind. Ich hoffe nicht mehr auf Heilung, und das ist auch gut so. Wer immer in Wartezimmern sitzt, sich immer wieder zu neuen Kliniken aufrafft, niemals die Hoffnung aufgibt, auch nach drei und vier und fünf und 15 Jahren nicht, der kann den Jetztzustand nicht akzeptieren. Wenn du immer davon ausgehst, dass dein Leben wieder anders wird, dein Körper sich wieder zusammenflickt, getrennte Nervenstränge einander wiederfinden, dann kannst du nicht zur Ruhe kommen.

Zur Ruhe kommen, das heißt für mich, meinem Körper das Okay zu geben, so zu bleiben, wie er ist. Und ihm das Okay zu geben, sich mit dem Alter zu verändern und auch neue Bedürfnisse zu äußern. Aufzuhören, ableistische Ansprüche an ihn zu stellen. Das ist der wichtigste Schritt in einem Empowermentprozess, der erst richtig losgetreten werden konnte, als ich aufgehört habe zu warten.

Kommentare von meinen Mitmenschen fordern diese Ruhe immer wieder heraus, indem sie meinen Körper infrage stellen: Wenn mich ein Typ auf einer Party fragt, wie lange ich noch auf Krücken laufen müsse, oder mir die Rewe-Verkäuferin eine gute Besserung wünscht, obwohl ich gar nicht krank bin. Wenn ich bei einem Termin beinahe wieder ausgeladen werde mit den Worten, ich hätte doch auch zu einem späteren Zeitpunkt kommen können, wenn ich wieder fit auf den Beinen bin. Wenn mir ein wildfremder Mann auf der Straße ungefragt Tipps gibt, wie ich am besten meine Beine bewegen soll, damit sich mein Gangbild verbessert.

Heute sitze ich allein in Wartezimmern. Dort warte ich zwar noch, aber nicht mehr auf Heilung, sondern bloß darauf, aufgerufen zu werden. Und wenn ich später im Sprechzimmer sitze und nach neuen Behandlungen frage, hoffe ich gar nichts, weil ich für mein Leben schon mehr als genug gehofft habe. Der Hoffnungstank ist leer und das ist okay so.