von Hêlîn Dirik

Der Feminizid an Jîna Amini durch die iranische Sittenpolizei ist nun sechs Wochen her. Sie wurde mit der Begründung, sie würde ihren Hijab nicht ordnungsgemäß tragen, festgenommen und zu Tode geprügelt. Seither gab es landesweite Proteste, Streiks und Widerstand auf den Straßen, die nicht nur Iran und Ostkurdistan, sondern die gesamte Region erschüttern und weltweite Solidaritätsaktionen ausgelöst haben. Es gibt mittlerweile über 200 bestätigte Todesfälle sowie Tausende Festnahmen. Alle 31 Provinzen Irans haben sich dem Aufstand gegen das islamische Regime angeschlossen.

Die Tatsache, dass die Proteste das Ausmaß einer Revolution angenommen haben, kann nicht unabhängig von der Tatsache betrachtet werden, dass Jîna Amini Kurdin war. In den Worten ihrer Familie: „Die Tochter Kurdistans; die Tochter derer, die nach Freiheit streben.“

Die politisierte kurdische Gesellschaft in Iran ist seit Jahrzehnten organisiert. Auch schon vor der islamischen Revolution 1979 gab es linke und sozialistische Parteien, darunter auch bewaffnete Guerilla-Organisationen. Bedingt durch die Geschichte und die Unterdrückung der Kurd*innen durch die Staaten Iran, Irak, Türkei und Syrien gibt es eine jahrzehntelange Widerstandstradition in Kurdistan, die in den aktuellen Protesten erneut zutage getreten ist. Diesem Aufstandspotenzial war sich das iranische Regime bewusst, als es schon kurz nach Jîna Aminis Ermordung versuchte, eine öffentliche Beisetzungszeremonie in ihrer mehrheitlich von Kurd*innen bewohnten Heimatstadt Seqiz zu verhindern. Es kam bei der Beisetzung trotzdem zu Protesten, bei denen Frauen ihre Kopftücher verbrannten und Slogans riefen. Von Seqiz aus breitete sich der unaufhaltsame Aufstand dann auf das ganze Land aus.

 

Hevi, 24, Singschar, Südkurdistan, 2015, © Sonja Hamad

Dass genau die Parole „Jin, Jiyan, Azadî“ (dt. Frau, Leben, Freiheit) bald zum Motto dieser Massenproteste wurde, ist ebenso kein Zufall. Der kurdische Slogan geht direkt auf die kurdische Frauenbewegung, die kurdische Arbeiter*innenpartei und ihren Wegweiser Abdullah Öcalan zurück. Er wurde weltweit gerufen, als etwa die Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Rojava gegen den IS kämpften oder als die drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris vom türkischen Geheimdienst ermordet wurden. Dass die Parole teilweise als ein „neuer Slogan“ der „iranischen Frauenbewegung“ bezeichnet wird, macht die Geschichte der kurdischen Frauen unsichtbar, die diesen Slogan geprägt, mit Leben gefüllt und für diese Utopie ihre Leben geopfert haben. „Jin Jiyan Azadî“ ist ein Echo dessen, was Kurd*innen in allen Teilen Kurdistans jahrzehntelang erkämpft und aufgebaut haben. Diese Tatsache darf nicht ignoriert werden denn dieses Erbe nährt auch die jetzigen Proteste und ist mitunter ein Grund, warum besonders in den kurdischen Gebieten in Iran derzeit enormer Widerstand gegen das Regime geleistet wird. In den letzten Wochen sind viele Städte den Aufrufen kurdischer Organisationen zum Generalstreik gefolgt, haben die Geschäfte geschlossen und die Arbeit niedergelegt, um die Proteste zu unterstützen. Besonders in kurdischen Gebieten und in Belutschistan gibt es blutige Gefechte zwischen der Bevölkerung und den Sicherheitskräften. Politische Gefangene wie die Kurdischlehrerin Zara Mohammadi unterstützen zudem den Widerstand aus dem Gefängnis und sind in den Hungerstreik getreten. Und die kurdische Stadt Şino in der Provinz Urmiye war vorübergehend unter der Kontrolle der Bevölkerung, nachdem dort die Regimekräfte vertrieben wurden. Bei den kurdischen Aufständen gegen das Regime stehen Frauen an vorderster Front.

Das Regime geht dementsprechend auch mit massiver Gewalt und Repressionen gegen Kurd*innen vor. Für Minderheiten ist das Auflehnen gegen den Staat umso gefährlicher und tödlicher. Seit Jahrzehnten stellt das Regime jegliche kurdische Organisierung als separatistische Verschwörung gegen das islamische Regime dar. Mit der Begründung, sie würden die Unruhen schüren, begannen die iranischen Revolutionsgarden Ende September mit Raketenangriffen auf Stützpunkte kurdischer Parteien und auf zivile Ziele in Südkurdistan/Nordirak. Und aus Sine (Sanandaj), der Hauptstadt der Provinz Kurdistan, wird von einem Massaker an der Bevölkerung berichtet. Dort setzt das Regime scharfe Munition, Panzer und Tränengas ein, um den Widerstand der Bevölkerung zu brechen. Es häufen sich außerdem Berichte über sexualisierte Gewalt und Folter in Gewahrsam an Frauen und Mädchen durch die iranischen Sicherheitskräfte. Minderheiten bekommen, wie so oft, die Repression und Gewalt des Staates am heftigsten zu spüren. Aus diesem Grund darf die Frage der Selbstbestimmung von Minderheiten nicht auf morgen verschoben werden, sondern muss fester Bestandteil der Kämpfe sowie der weltweiten Solidarität sein.

Auch wenn es in den meisten Berichterstattungen ignoriert oder als unwichtig abgetan wird: Jîna Aminis kurdische Identität oder die Tatsache, dass Städte wie Sine mehrheitlich von Kurd*innen bewohnte Städte sind, sind nicht unbedeutend und keine Randinfo. Die kurdische Widerstandsgeschichte, insbesondere jene kurdischer Frauen, ist maßgebend für die Revolution, die derzeit in Iran passiert. Während der kurdische Slogan „Jin Jiyan Azadî“ um die ganze Welt geht, bleiben die kurdische Realität und die vielfachen staatlichen Angriffe auf kurdische Frauen dennoch unsichtbar. So blieben Reaktionen auf den Feminizid an der kurdischen Aktivistin Nagihan Akarsel, die am 04. Oktober vor ihrer Wohnung in der südkurdischen Stadt Slêmanî bei einer Operation der Türkei ermordet wurde, weitgehend aus. Dabei gehörte sie derselben revolutionären Frauenbewegung an, von der diese kämpferische Parole stammt, und welche, wohlgemerkt, in Deutschland und der EU kriminalisiert wird. Diese Bewegung, die sowohl vom Iran als auch durch den NATO Staat Türkei angegriffen wird, kämpft jedoch aktiv gegen Kapitalismus und Patriarchat und hat z. B. in Rojava/Nordsyrien eine feministische Revolution hervorgebracht, die der gesamten Region als Modell dienen soll.

Internationale radikale Solidarität mit den kurdischen Aufständen und den Protesten gegen das iranische Regime muss auch bedeuten, die von Nationalstaaten auferlegten Grenzen im Kopf zu sprengen, aus dem westlichen Blickwinkel auszubrechen und die Revolution im größeren regionalen Kontext zu begreifen. Feministische Kämpfe, insbesondere kurdischer Frauen, die sich gegen das System richten, waren schon immer grenzübergreifender Natur und lassen sich nicht voneinander trennen. Die Rebellion in Iran und in Kurdistan sollte für Feminist*innen überall ein Anlass sein, den Blick für bereits existierende revolutionäre feministische Alternativen und Utopien für ein freies Leben zu öffnen.