Von Holle Barbara Zoz

Im Staatstheater Darmstadt feiert das Stück „Drei Kameradinnen“ Uraufführung. Also hinein in den 1970er-Jahre-Palast des Theaters, hinab in den Keller zu den Kammerspielen, wo sich das Publikum ganz plötzlich verjüngt. Die Älteren hat es wohl zum Hessischen Staatsballett in den Hauptsaal gezogen. „Drei Kameradinnen“ teilt sich hier nun eine Spielzeit mit „Homo Faber“, jahrzehntelanger Gymnasialschulklassiker über einen alten, weißen Herrn, der herumreist und aus Versehen mit seiner ihm unbekannten Tochter schläft. Die drei Kameradinnen sind dagegen nicht-weiße Freundinnen Ende zwanzig, die sich im heutigen Deutschland mit Rassismus und Nazis, Jobcenter und Liebeskummer herumschlagen müssen und deren Freundinnenschaft seit dem gemeinsamen Aufwachsen be- steht. Das Stück ist eine Adaption des Buches von Shida Bazyar aus dem Jahr 2021, das für den Deutschen Buchpreis nominiert war. 352 Seiten umgewandelt in fast zwei Stunden Theater, inszeniert von der Schauspielerin und Regisseurin Isabelle Redfern. Pate für Bazyars Roman stand wiederum der Roman „Drei Kameraden“ von Erich Maria Remarque, der von drei durch die im Ersten Weltkrieg gemachten Erfahrungen eng miteinander verbundenen Freunden in den bewegten 1920er-Jahren erzählt. 

Die drei Kameradinnen sind nicht durch den Krieg verbunden, sondern durch ihre gemeinsame Kindheit und Jugend.

Jetzt lebt jede ihr eigenes Leben, doch für ein ereignisreiches Wochenende kommen sie wieder zusammen. Kasih und Hani bekommen Besuch von ihrer Freundin Saya, alle drei sind auf die Hochzeit einer Bekannten eingeladen. Doch die Stimmung ist aufgeladen. Ein Prozess gegen eine Nazigruppe, die eine Mordserie begangen hat, ist öffentliches Thema, immer wieder kommen neue Informationen ans Licht. Saya saugt sie alle auf und kämpft selbst nachts im Traum damit. Hani versucht derweil, sich in ihrem Bürojob zu behaupten, bei dem sie sich zu viel gefallen lässt. Währendessen wird Kasih im Jobcenter nur noch mehr verunsichert, und dann taucht auch noch ihr Exfreund auf, der im Gegensatz zu ihr noch nie wirklich Probleme im Leben hatte. 

© Kamil Janus

Nur wenn die Kameradinnen beieinander sind, fühlen sie sich verstanden und können sich in ihrer Freundinnenschaft gegenseitig Kraft spenden. Doch dann kommt es zu einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus, und in den Medien wird verbreitet, eine radikalisierte Saya habe ihn zu verantworten. 

Deshalb beginnt Kasih, ihre Geschichte und die ihrer Kameradinnen zu erzählen. Dabei spricht sie die Zuschauer*innen immer wieder direkt an, hinterfragt die Motive und Gedankengänge des Publikums stellvertretend für die der Mehrheitsgesellschaft. Sie fordert von dieser Gesellschaft Rechenschaft für ihr Wegschauen bei rassistischen Terrorserien und Morden, wirft ihr eine Ignoranz vor, die sich nicht alle leisten können. Wie im Roman ist sie eine unzuverlässige Erzählerin, sie folgt keinem stringenten Handlungsablauf, sortiert nicht nach Einleitung, Hauptteil, Schluss. 

Sie verweigert auch die ethnischen Zuschreibungen der Menschen, in der Inszenierung wird aus dieser Verweigerung ein Spiel mit den Identitäten. Der gesamte Cast wechselt diese wie Accessoires, die Schauspieler*innen stellen Prototypen im fliegenden Wechsel dar, verkörpert mit Perücken und wenigen Kleidungsstücken. Hierbei entstehen Szenen, die im Wechselspiel mit Themen wie der rassistischen Mordserie geradezu grotesk wirken: Das Publikum lacht über Klischees, kurz da- rauf bleibt ihm das Lachen im Hals stecken. Spannung, Spaß und Schmerz wechseln sich in rasantem Tempo ab. Tanzeinlagen und Pop- songs untermalen immer wieder die Erlebnisse der Kameradinnen, dadurch wird der Kontrast zwischen Humor und trauriger Wut noch größer. 

Im Gespräch betonte die Regisseurin Isabelle Redfern, wie wichtig ihr dieser Humor ist; einer der Gründe, weshalb sie sich für den Roman von Shida Bazyar entschieden hat, als ihr eine Inszenierung in Darmstadt angeboten wurde. Die Stimme der Hauptfigur Kasih, die sich verweigert und ihre Geschichte so erzählt, wie sie es möchte, empfand sie als äußerst ermächtigend. Redfern weiß, dass sich viele Menschen nicht auf Theaterbühnen repräsentiert sehen, und kann nun mit ihrem Ensemble etwas daran ändern. Sie wollte kein Theaterstück über Rassismus inszenieren, das im US-amerikanischen oder südafrikanischen Raum entstanden ist, hier sei die historische und kulturelle Ausgangslage eine andere, sagt sie. Sie entschied sich explizit für einen Stoff, der Bezug zur deutschen Gegenwart nimmt. In einem Theatersystem, das sich aus aktuellen Anlässen verpflichtet fühlt, Rassismus zu verhandeln, sieht sie sich als Token und Expertin zugleich. Und ist dennoch froh, diesen Stoff verwirklichen zu können. 

Das Stück lebt von dem starken Ensemble. Die drei Hauptfiguren, die Freundinnen, die Kameradinnen: Kasih (Süheyla Ünlü) ist verletzlich und liebevoll, Saya (Mariann Yar) ist wütend und stark, Hani (Naffie Janha) versöhnend und strahlend optimistisch. Alle drei spielen sich gegenseitig zu und lassen so die Freundinnenschaft der Figuren lebendig werden. Dabei wirken ihre Figuren sehr jung, jünger als sie ihren Lebenserfahrungen nach sein sollten. Vielleicht ist die junge Tonalität dieser drei Frauen, die die Zeit der Adoleszenz längst hinter sich gelassen haben, auch einem konkreten Zielpublikum geschuldet. Denn anders als der Roman richtet sich das Theaterstück explizit an Jugendliche ab 14 Jahren, was es gewiss für den Besuch von Schulklassen attraktiv machen wird. So wird ein Stoff, in dem sich die Hauptfigur am Deutschunterricht mit seiner Aufbauanalyse und dem im Schulsystem erlebten Alltagsrassismus abarbeitet, seinen Weg vermutlich genau in diesen Deutschunterricht finden. Hoffentlich ersetzt „Drei Kameradinnen“ für Deutschklassen dann die Analyse von „Homo Faber“ – es wäre höchste Zeit.

„Drei Kameradinnen“

Regie: Isabelle Redfern. Spielzeit 2022/23, Staatstheater Darmstadt 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Missy 06/2022