Interview: Gundula Haage

Das Spielfilmdebüt „Saint Omer“ von Alice Diop ist Frankreichs Oscar-Beitrag für 2023. Der Film folgt der Schriftstellerin Rama, die einem Prozess in der französischen Kleinstadt Saint Omer beiwohnt, um Inspiration für ihr neues Buch zu gewinnen. Des Mordes angeklagt ist die senegalesische Philosophiestudentin Laurence Coly (gespielt von Guslagie Malanda). Sie soll ihre 15 Monate alte Tochter nachts an einem Strand ausgesetzt haben, als die Flut einsetzte. Während des Prozesses entfaltet sich nach und nach die Lebensgeschichte der Angeklagten – und ganz neue Fragen tauchen auf zur Ambivalenz von Schuld, Recht und Unrecht.

Was hat dich an der Rolle der Laurence Coly besonders interessiert?
Als ich das Drehbuch zum ersten Mal gelesen habe, hat mir die Vorstellung Angst gemacht, in die Haut einer Mörderin zu schlüpfen. Dieser Angst wollte ich mich stellen. Laurence ist

eine sehr komplexe Rolle, denn sie ist natürlich kein Monster. Sie ist ein Mensch.

Der Film basiert auf dem Fall von Fabienne Kabou, die 2013 ihre Tochter tötete. Was hat es für dich bedeutet, dass deine Figur ein reales Vorbild hat?
Die Tat übte damals eine seltsame Faszination aus, sie war überall in den Nachrichten. Eine Frau, die ihr eigenes Kind tötet, ist ein Tabu. Ich kenne kein Land, keine Kultur, keine Gesellschaft, wo so ein Verbrechen nicht als besonders furchtbar angesehen wird. Ich musste die Geschichte dieser Frau respektieren, auch wenn sie etwas Unvorstellbares getan hat. Während wir an dem Film gearbeitet haben, hatte ich jede Nacht Albträume. Ich träumte davon, wie ich zur Mörderin werde. Es hat sich manchmal so angefühlt, als steckten drei Frauen in meiner Haut: die Schauspielerin Guslagie Malanda, die fiktive Angeklagte Laurence Coly und Fabienne Kabou. Ich habe die reale Fabienne nie getroffen, aber alles, was ich im Fil…