Missy Magazine 01/23, Literaturtipps

Veronica
Veronica ist die Freundin von Ich-Erzählerin Alison – oder zumindest so was in der Art. Es sind die Achtzigerjahre in Manhattan, Alison ist jung, Model, die 16 Jahre ältere Veronica einsam und krank. Warum die beiden trotz ihrer Unterschiede jahrelang befreundet sind, versteht Alison auch nach Veronicas Tod nicht wirklich. Klar ist: Wäre Veronica nicht an HIV erkrankt, hätte diese merkwürdige Freundschaft nicht bis zu ihrem Tod überdauert. Doch es ist nicht nur Mitleid, was sie an die Ältere bindet. Alison wird von der Dunkelheit angezogen, eine Faszination, die sie auch dazu bringt, das beschauliche New Jersey für Manhattan zu verlassen, „um Sex und Grausamkeit zu erfahren“. Viele Jahre später ist Alison in einer ähnlichen Situation wie Veronica einst. Mary Gaitskills Roman „Veronica“, 2005 im Original erschienen und jetzt erstmals übersetzt, springt zwischen beiden Zeitebenen hin und her. Die vielen Sprünge und der sich verschiebende Fokus machen den Roman teilweise unausgeglichen. Er zeigt aber auch, worin Gaitskill so gut ist: Menschliche Abgründe mit einem nüchternen, distanzierten Blick schildern, ohne dabei in Pathos und Sentimentalitäten abzurutschen oder in Widerwärtigkeiten, wie es einige männliche Autoren gerne tun. Und so ist „Veronica“ ein interessantes Werk über „Sex und Grausamkeit“, über den Höhepunkt der Aids-Panik – und eine Freund*innenschaft, die Einsamkeit höchstens lindern, aber niemals heilen kann. Isabella Caldart

Mary Gaitskill „Veronica“ ( Aus dem Englischen von Daniel Schreiber. Blumenbar, 301 S., 22 Euro )

 

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Miss Kim weiß Bescheid
Die Buchcover der ehemaligen Drehbuchautorin Cho Nam-Joo sehen sich sehr ähnlich. Sowohl ihr 2021er-Bestseller „Kim Jiyoung, geboren 1982“ als auch ihre neue Kurzgeschichtensammlung „Miss Kim weiß Bescheid“ bildet Frauen ohne Gesichter ab.
Erst die Titel geben ihnen metaphorisch Leben. Das Debüt und die acht Kurzgeschichten in „Miss Kim weiß Bescheid“ eint außerdem die starke Beschreibung von Gerüchen. Erneut schreibt Cho Nam-Joo über die patriarchalen Strukturen Südkoreas: Eine Vater stirbt bei einem Unfall, weil er für das Auslandsstudium des Sohns Taxi fährt; für das Studium der Tochter ist kein Geld da. Und ein anderer verlässt die Familie und vor allem die unselbstständige Mutter von heute auf morgen mit dem gesamten Ersparten. Besonders interessant ist die Kurzgeschichte über eine junge Autorin, die durch ihre Anthologie zum Shootingstar des internationalen Feminismus wird. Ganz sicher kein Zufall, dass sich Cho Nam-Joo in diesem Rahmen mit Hasskommentaren im Internet beschäftigt. In unzähligen Szenen erzählt Cho Nam-Joo zudem detailreich von Mahlzeiten. Die Zubereitung ist in diesem Kosmos leider immer noch Frauensache. Simone Bauer

Cho Nam-Joo „Miss Kim weiß Bescheid“ ( Aus dem Koreanischen von Inwon Park. Kiepenheuer & Witsch, 304 S., 22 Euro )

 

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Ein Zuhause schaffen
Die Londoner Künstlerin Tice Cin legt mit „Ein Zuhause schaffen“ einen erfrischenden Debütroman vor, der uns in die türkisch-zypriotische Gemeinschaft des rauen Londoner Nordens führt. Dort lebt Damla mit ihren jüngeren Geschwistern, ihrer Mutter Ayla und deren Mutter Makbule. In drei Generationen wachsen in der Zeitspanne 1999 bis 2012 die einen heran, während die anderen altern. Als Aylas „Babydaddy“ inhaftiert wird und ihr einen Vorrat an Heroin hinterlässt, den sie „verschieben“ soll, weiß sie auch schon wie: in Kohlköpfen. Im Roman der interdisziplinären Künstlerin Tice Cin vermischen sich Prosa und Lyrik zu einer Collage aus Texten. Dadurch fühlt es sich auch am Ende des vielstimmigen Romans nicht an, als wäre alles gesagt. „Ein Zuhause schaffen“ lebt vom Dazwischen, den Kontrasten einer düsteren Umgebung und der Zartheit ihrer Charaktere. Auch in der deutschen Übersetzung kommt der musikalisch poetische Stil durch – der Roman wird auch von einer Playlist der Autorin begleitet –, nur wenn türkischsprachige Begriffe fallen, wird es etwas ungelenk. Die deutsche Ausgabe wird mit einem 18-seitigen Nachwort der Autorin Şeyda Kurt geschlossen, das die „Lahana“, wie der Kohl auf Türkisch heißt, wieder in den Mittelpunkt rückt. Melissa Kolukisagil

Tice Cin „Ein Zuhause schaffen“ ( Aus dem Englischen von Marion Hertle. Kampf Verlag, 344 S., 24 Euro )

 

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Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte
Irgendwo zwischen DDR-Vergangenheit und Nazi-Gegenwart, zwischen subjektivem Wunschdenken und brutalem Realismus, zwischen Stadt und Land – irgendwo da befindet sich Manja Präkels Buch „Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte“. Die Essays ähneln fast einer Art Tagebuch skurriler Beobachtungen und des alltäglichen Pandemiegeschehens. Präkels versteht es, auf eine ganz eigene poetische und doch sehr nüchterne Brandenburger Art die Probleme unserer Gesellschaft zu entstauben: „So viel unsichtbarer Stoff liegt überall vor Hauseingängen, achtlos liegengelassen.“ Die Autorin hat ihn zu ihren Geschichten verarbeitet. Wie bereits in ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ setzt sich Präkels auch in ihrem neuen Werk mit rechter Gewalt und dem Umgang mit Geflüchteten auseinander. So berichtet sie in Essays mit Titeln wie „Echte Männer, geile Angst“ über Alltagsrassismus als wiederkehrendes Muster, das sich von Kapitel zu Kapitel stärker in die Leser*innen frisst, sie wachrüttelt und ihnen den Atem nimmt. Wer etwas Leichtes lesen möchte, sollte nicht zu diesem Buch greifen – denn die Geschichten müssen wehtun. Anna-Marie Eisenbeis

Manja Präkels „Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte“ ( Verbrecher, 192 S., 20 Euro

 

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Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur & Ich steh hier und bügle
Das Schweigen in der Literatur trieb die 1912 in den USA geborene und 2007 gestorbene Schriftstellerin Tillie Olsen an: „Es gibt so viel Ungeschriebenes, das noch geschrieben werden muss“, formulierte sie bereits 1962 in einem Essay, der jetzt zusammen mit vier weiteren auf Deutsch vorliegt. Zu entdecken ist eine klarsichtige Beobachterin gesellschaftlicher Verhältnisse und des Literaturbetriebs; eine Autorin, die ihrer Zeit voraus war. Wie werden Stimmen daran gehindert, sich literarisch zu artikulieren? Von wem erscheinen warum keine Bücher? Olsen, die ohne Abschluss die Schule verließ, sich früh politisch engagierte, Mutter von vier Töchtern wurde, kannte selbst viele Gründe. Mutterschaft war ein für Frauen grundlegender, da deren Anforderungen der Kontinuität zuwiderliefen, die das Schreiben verlange. Ein Frauenbild, das Frauen als schöpferische Persönlichkeiten schlicht nicht vorsah. Olsen leistet hier lange vor dem Einzug feministischer Literaturwissenschaft Pionierinnenarbeit. In den späteren Texten bezieht sie sich teils schon darauf. Auch die anderen „Stimmenunterdrücker der Menschheit, Klasse und/oder Hautfarbe“ hat sie im Blick, verweist auf Bildung, kritisiert die Einengung auf die heterosexuelle Perspektive. Betont das Ineinandergreifen der Kategorien – ein früher intersektionaler Ansatz. Indem sie viele Autor*innen aus Tagebüchern, Briefen, Werken zitiert, entsteht in einer Art literarischer Collage eine moderne Vielstimmigkeit. Viele ihrer Ausführungen sind traurig aktuell, etwa bezüglich einer immer noch männlich dominierten Literaturkritik. Sie selbst hat nur einen Erzählband vollendet, der aber ist großartig und ebenfalls jetzt erschienen: feinste, kühne Spracharbeit, die intensive, berührende Texte von großer Unmittelbarkeit schafft. Größtmögliche Empfehlung! Carola Ebeling

Tillie Olsen „Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur“ ( Aus dem Englischen von Nina Frey & Hans- Christian Oeser. Aufbau, 350 S.,22 Euro )

Tillie Olsen „Ich steh hier und bügle. Storys“ ( Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen & Jürgen Dormagen. Aufbau, 152 S., 20 Euro )

 

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Die Tochter des Kommunisten
Katia wächst in Ostberlin auf, wo es nach Kohl und Kohlen riecht. Es ist immer kalt unter der fleckigen Zimmerdecke. Ihre Eltern sind vor dem faschistischen Franco-Regime in die DDR geflohen und bauen sich eine ruhige, von gegenseitiger Liebe geprägte Existenz auf. Aber dann trifft Katia auf ihre große Liebe. Er lebt auf der anderen Seite und überredet
Katia zur Republikflucht. Über zwanzig Jahre später kehrt sie aus der südwestdeutschen Kleinstadt nach Berlin zurück und wird der Schäden gewahr, die durch ihren Weggang in der Familie verursacht wurden. Und sie erfährt von einem Verrat, der noch viel Schlimmeres angerichtet hat. Irritierender als die naive Verwendung der Totalitarismustheorie auf die Beweggründe kommunistischer Exilant*innen, die in der DDR auf ein freieres Leben hofften, ist die Ambitionslosigkeit, mit der sich die Ich-Erzählerin selbst beschreibt. Als wäre sie ein Gegenstand, der sich von einer Ecke in eine andere stellen lässt, ohne selbst eine Meinung zu haben. Politische Reflexionen bleiben in platten Klischeebildern über „unseren kleinen Bürokratenstaat“ stecken. Der Roman erzählt von der Lektüre der Bücher von Anna Seghers und Pablo Neruda. Aber diese Vorbilder haben in diesem Buch keine Spuren hinterlassen. Lene Zade

Aroa Moreno Durán „Die Tochter des Kommunisten“ ( Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. btb, 172 S.,22 Euro )

 

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Unsre verschwundenen Herzen
 „PACT ist (…) ein Versprechen, unsere amerikanischen Ideale und Werte zu schützen“, schreibt die US-amerikanische Autorin Celeste Ng auf den ersten Seiten ihres neuen Romans. „Unsre verschwundenen Herzen“ spielt in einer dystopischen Gesellschaft, die von Überwachung, anti-asiatischem Hass und Nationalismus geprägt ist. In dieser Welt wächst der junge Protagonist Bird als Kind einer Mutter mit chinesischen Wurzeln auf. Ng greift in ihrem Roman gesellschaftliche Tendenzen auf, die keineswegs der reinen Fantasie entspringen. Trump, Pandemie und Verschwörungstheorien nähren den Boden eines Amerikas, dessen düstere Zukunft die Autorin skizziert. Asiatisch gelesene Personen werden auf der Straße attackiert, Kinder ihren „unamerikanisch“ gesinnten Familien entrissen. Diese Realität entfaltet sich langsam unter dem investigativen Auge des zwölfjährigen Protagonisten, der sich auf der Suche nach seiner aktivistischen Mutter in ein postapokalyptisches New York begibt. Während Ng lebendig und zugänglich erzählt, ist der Plot von „Unsre verschwundenen Herzen“ ermüdend berechenbar und erschwert es, sich mit den eher einseitigen Charakteren zu identifizieren. Dennoch ist „Unsre verschwundenen Herzen“ ein wichtiges Buch. Es sitzt am politischen Puls unserer Zeit und richtet den Blick warnend auf die aktuellen Umstände. Liv Toerkell

Celeste Ng „Unsre verschwundenen Herzen“ ( Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. dtv, 400 S., 25 Euro )

 

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Kriegsreporterinnen
„Wenn man diese Arbeit macht, sieht man das Schlimmste der Menschheit, aber auch das Beste“, sagt Clarissa Ward, 42, preisgekrönte CNN-Chef-Auslandskorrespondentin. Sie berichtete lange aus Syrien, überwand danach eine Depression und berichtet nun aus der Ukraine. Ward ist eine von dreißig Kriegsreporterinnen, die die Autorin Rita Kohlmaier in ihrem sehr lesenswerten Buch versammelt, „die älteste wurde 1874 geboren“ (die Kriegsberichterstatterin Alice Schalek), „die jüngsten erst 1986“, wie die afghanische TV-Journalistin Anisa Shaheed, die seit der Gewaltherrschaft der Taliban im Exil lebt. Kohlmaier hat ihr Buch in fünf Kapitel geteilt. In „Frontberichte und Literatur“ findet sich etwa Martha Gellhorn, die noch mit 81 vom Krieg berichtete. In „Bis zum bitteren Ende“ huldigt Kohlmaier den Getöteten, darunter der Fotografin Anja Niedringhaus, die 2014 in Afghanistan 
umkam, und Gerda Taro (1910–37), Partnerin des Fotografen und Magnum-Fotoagentur-Mitbegründers Robert Capa,
 die vom Spanischen Bürgerkrieg kündeten, wo Taro umkam. Gerade diese längst Verblichenen (Taros Werk wurde siebzig Jahre nach ihrem Tod aufgetan) sind es, die Kohlmaiers Buch so lesenswert machen, aber auch so schwer verdaulich. Viele haben keine Familien gegründet oder versuchten, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen, um den Job nicht zu gefährden, auch Ward. Trotzdem: Die Gesellschaft braucht diese mutigen Frauen, um von den „hässlichen Krankheiten des Krieges“ zu berichten. Barbara Schulz

Rita Kohlmaier „Kriegsreporterinnen – Im Einsatz für Wahrheit und Frieden“( Elisabeth Sandmann Verlag, 176 S.,28 Euro )

 

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Seegang
Ein Einbruch in ihre Londoner Wohnung und der Raub der Daten ihres
 angefangenen Buches ändern alles. Tabitha Lasley ist Mitte dreißig, als sie beschließt, mit ihrem Freund
 Schluss zu machen, ihren Redakteurinnenjob und sowieso ihr gesamtes Leben
 in London hinter sich zu
lassen. Die Autorin erzählt
in ihrem Debüt und Memoir „Seegang“, wie sie in die schottische Küstenstadt Aberdeen zieht und eine lang ersehnte Recherche über Männer beginnt, die auf Ölplattformen arbeiten. Sie möchte „wissen, wie Männer sind, wenn sie keine Frauen um sich haben“, und interviewt im Laufe des Buches 103 Bohrarbeiter. Begleitet von Zitaten aus diesen Gesprächen vor jedem Kapitel tauchen die Leser*innen mit ihr in das rohe konsum- und dopaminorientierte Leben der Ölindustrie ein und begleiten sie, als sie sich fast selbst in der Machowelt aus Drogen, Brutalität und einer sinnlosen Affäre mit einem verheirateten Arbeiter verliert. Herausgekommen ist eine Wucht an Text, der nicht nur eine apokalyptische Männerwelt porträtiert, sondern auch einen inneren Wendepunkt der starken und klugen Autorin darstellt. Ihr feiner Beobachtungssinn und die intellektuellen Reflexionen über jede Situation haben Suchtfaktor. Lorina Speder

Tabitha Lasley „Seegang“ ( Aus dem Englischen von Tanja Handels. Luchterhand, 320 S., 22 Euro )

 

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Wunderkind
Agnes ist allein, das weiß sie schon als Baby. Ihre Mutter scheint abwesend, selbst wenn sie anwesend ist. Agnes muss hungern und wird auch sonst vernachlässigt, oft bleibt sie unbeaufsichtigt in der Wohnung. Irgendwann versteht sie, dass ihre Mutter krank ist – sie hat Depressionen. Dazu hegt sie Groll gegen ihre Tochter, die ungewollt ist und ihre Karriere vermeintlich verhindert hat. Agnes’ Mutter Anita war nämlich ein aufstrebender Kinderstar am Gesangshimmel, nach der Schwangerschaft kam statt des Erfolgs der Einbruch, die Alkoholsucht, wechselnde Partner, die nicht blieben. Die ungeliebte Tochter wagt es dann auch noch, selbst ein musikalisches Wunderkind zu sein. Agnes will nur weg von der Mutter. Als Schulkind
 schließt sie sich dem Talentförderer Frank an und 
geht mit seiner Gruppe auf 
Tournee. Doch so einfach
 ist es nicht, das alte Leben zurückzulassen … Karin
 Smirnoff legt ihren Figuren 
einfache Sätze in den Mund, 
die lakonisch die Grausamkeiten des Lebens beschreiben. Alle Protagonist*innen sind hin- und hergerissen von Familiengeheimnissen, Süchten und sonstigen Abhängigkeiten. Smirnoff zeigt Machtgefüge, Gewalt und Machtmissbrauch, dennoch werden Agnes und ihre Freund*innen nicht als Opfer dargestellt. Sie gehen achselzuckend durch die wahnsinnige Welt der Erwachsenen, ausgestattet mit Galgenhumor und großem Willen. Schwere Kost, leicht zu lesen! Michaela Drenovaković

Karin Smirnoff „Wunderkind“ ( Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin, 320 S., 26 Euro )

 

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Sihl City
In Darja Kellers Erzählungen ist alles klein und exquisit. So wie in der Stadt, in der sie handeln, Zürich. Kein Pomp, kein Lyrismus, keine Show. Dafür exakte Alltagsbeobachtungen, in denen alles seinen Platz findet und die alltäglichsten Dinge auf einmal anfangen zu leuchten. Egal, ob die 1994 in der Nähe von Zürich geborene Autorin in ihrer ersten Buchveröffentlichung von einem Sommerausflug zum Katzensee, vom heiß verklebten Pony ihres Crushes, von Penne mit Tomatenmark, vom Licht über dem Waschbecken oder dem Plätschern eines Brunnens schreibt – man möchte auch so erleben, so fühlen. Denn mit ihrer nüchternen und doch intimen Schreibe legt sie einen verheißungsvollen Dunst über das, was ihren Protagonist*innen – oder ist es immer dasselbe Ich? – wie nebenbei widerfährt. Ich hat queeren oder auch mal Hetero-Sex, ist verknallt und denkt an ihr erstes Begehren für Mathilda, ist gerne allein und nimmt das Ende einer neuen Liebe im Konjunktiv schon vorweg. Und genau darin liegt das Können von Keller: Dass sie die Schäbigkeit oder auch Traurigkeit, die nicht gelebten Beziehungen, dem titelgebenden Einkaufscenter oder der Silvesterparty in der Provinz innewohnen, nicht negiert, sondern als Teil einer Post-Millennial-Realität wie gebrochenes Glas funkeln lässt. Sonja Eismann

Darja Keller „Sihl City“ ( re:sonar, 72 S., 12 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/23.