Politik der Schlagwörter
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Von Zain Salam Assaad
Im syrischen Nationalfernsehen berichten die Moderator*innen ohne Scham, welche Beileidsbekundungen erreicht haben und welche Politiker*innen ihn aus anderen Ländern besuchten, die sich in den Kriegsjahren von ihm und seiner Politik distanzierten. So sorgt die syrische Regierung für sich um die eigene PR, anstatt eine nationale Trauerphase für die Bürger*innen auszurufen. Viele Viertel in meiner Heimatstadt mussten geräumt oder evakuiert werden. Niemand holte die Menschen aus den Trümmern, tausende sind wohnungslos. Freund*innen aus anderen Städten berichten von katastrophalen Umständen, in denen sie mit bloßen Händen nach Überlebenden in den Trümmern suchten. Tagelang erreichte viele Erdbebengebiete keine Hilfe. Die Menschen waren auf selbstorganisierte Strukturen angewiesen. Während Todesopfer und Vermisste in den lokalen Nachrichten und auf Social Media aufgelistet wurden, bewegte sich die internationale Hilfe sehr langsam. Zusätzlich gab es begrenzte Berichterstattung seitens internationaler und deutscher Medien über die Lage in Syrien und in den kurdischen Gebieten. Die Bundesregierung macht in Richtung ernstgemeinter Hilfe nur kleine Schritte, und es lag in der Verantwortung von Betroffenen, ihren Verwandten und Freund*innen zu helfen. Warum sich auf schnelle und strukturelle Hilfe konzentrieren, wenn sich die ferne Katastrophe so gut instrumentalisieren lässt?
Propaganda zum Frühstück
Wenige Stunden nach dem Erdbeben lese ich überall widersprüchliche Nachrichten darüber, wer oder was dessen immensen Folgen begünstigt oder verschlimmert hat. Ich lese Meldungen von Medien, die es nicht auf die Reihe bekommen, die Gebiete des Erdbebens geographisch und politisch richtig einzuordnen. Sie portraitierten die Katastrophe als Sonderphänomen, ohne die relevanten Zusammenhänge zwischen Politik und schon längst überlasteten Hilfsstrukturen hervorzuheben. Im besten Fall wird Erdoğan kritisiert, über Assad findet sich kaum etwas. Das Erdbebengebiet ist aber vielschichtiger als das.
Es gibt beispielsweise Gebiete, die von den syrischen Rebellen kontrolliert werden wie die Stadt Idlib. Andere Gebiete hingegen unterliegen der Macht des Assad-Regimes wie Latakia. In diesen Regionen leben viele Binnenvertriebene, die Unterdrückung von der Regierung und deren Anhänger*innen erleben. Durch das Erdbeben haben sie noch mehr verloren. Weitere Gebiete wie Gaziantep zählen theoretisch zur Türkei, werden aber mehrheitlich von Kurd*innen, anderen Minderheiten und Geflüchteten wie beispielsweise von syrischen Staatsangehörigen bewohnt. Nicht zu vergessen sind ebenfalls kurdische Städte wie Efrîn unter der Besatzung von türkischen Streitkräften. Die Liste ist lang. Auffällig dabei ist, wie die Auswirkung des Erdbebens je nach Nationalstaat eingeordnet und bewertet wird. Das allein widerspricht der Realität von den Betroffenen dieser Katastrophe, die zum Teil von diesen Staaten ausgegrenzt werden.
Gleichzeitig werden (mit böser oder guter Absicht) ausschließlich Analysen, die den westlichen Humanismus widerspiegeln, in das Zentrum der Berichterstattung gestellt. Manche dieser Analysen meinen, alle Betroffenen würden im selben Boot sitzen. „Wir wollen keine syrischen Geflüchteten“ trendete allerdings im türkischen Twitter. Es gab dazu Behauptungen, dass Syrer*innen, Läden und Häuser kurz nach dem Erdbeben beklauten. Daher kommen die Fälle der Behandlung zweiter Klasse in der Verteilung von Hilfsgütern nicht überraschend. Andere Streitende argumentieren aus der Ferne, wo Hilfe ankommen darf oder nicht. Die Frage muss hier aber sein: Wie stellen wir unparteiische Hilfsstrukturen bereit? Anstatt mehr Hilfe vor Ort zu mobilisieren, fanden außerdem vermehrt Diskussionen über die Konsequenzen der westlichen Sanktionen auf das Assad-Regime in Syrien statt. Es soll möglich sein, mit und ohne Sanktionen zu helfen. Unabhängig davon, wie der Sanktionen-Diskurs ausläuft, ist Syrien weltweit das größte Empfängerland für humanitäre Hilfe, die anscheinend kaum jemanden erreicht. Die Rolle des „leidenden antiimperialistischen Regime“ ist kein neues Spiel in Syrien und Medienmachende dürfen dies bezüglich der Sanktionen nicht ignorieren.
Gemeinsam mit Russland stellt das Assad-Regime sich seit 2014 immer wieder quer, wenn es um Hilfslieferungen nach Nordwestsyrien ging. Die Internationale Gemeinschaft inklusive des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen setzt sich deshalb seit Jahren für Grenzöffnungen ein, – aber ausschließlich durch lauwarme Forderungen ohne politische Konsequenzen oder Alternativlösungen für die Menschen in dieser Region. So wird die Entscheidungsmacht darüber der syrischen Diktatur im Namen der staatlichen Souveränität überlassen, obwohl sie die besagte Region offiziell nicht versorgt und ständig bombardiert. Die Entscheidung, vor einigen Tagen zwei Grenzübergänge in die Türkei für drei Monate zu öffnen, kam erst, nachdem Hilfsarbeiten bereits an anderen Orten gestartet wurden. Es gibt hier keinen Grund, positiv darüber zu berichten. Denn die Öffnung der Grenzübergänge darf nicht mehr gegen die Lieferung von humanitärer Hilfe ausgenutzt werden.
Zudem kursieren noch falsche Aussagen auf Social Media. Zum Beispiel stimmt es nicht, dass inbesondere Regierungsgebiete eingeschränkte Hilfe bekommen würden. Im Gegenteil: In den Rebellen-Gebieten in Syrien ist die Lage besonders kritisch. Dort kommt weniger Hilfe als in den Regierungsgebieten an. Das ist schon lange vor dem Erdbeben der Fall. Staatspropaganda kann zwar immer neu verpackt werden. Fakt ist, dass in jedem der betroffenen Gebiete der Erdbebenregion andere Strukturen wie Korruption, Rassismus oder die politischen Prioritäten der streitenden Akteur*innen wirken, welche die Hilfsmöglichkeiten verhindern oder limitieren. Jetzt müssen jedoch viele Narrative zusammen gedacht und Hilfsangebote dementsprechend angepasst werden, um den Einfluss der streitenden Akteur*innen in der Region auf Hilfsarbeit zu minimieren.
Selbsthilfe, Solidarität und Vernachlässigung
Fakenews lassen sich in solchen Zeiten noch einfacher verbreiten. Einige Gründe dafür sind die internationale Ignoranz und die fehlende Berichterstattung aus der Betroffenenperspektive in der Region sowie die Übernahme von Propaganda der türkischen oder syrischen Regierung. Es kann nicht sein, dass wir Menschen in Krisengebieten verpflichten, Citizen Reporting zu betreiben. Das heißt, sie müssen selbst Geschehnisse dokumentieren, Menschen in anderen Ländern informieren und nach Hilfe fragen. Auch das in den deutschen Leitmedien so hochgehaltene Paradigma der „seriösen Quellen“ wird plötzlich brüchig. Regierungspropaganda muss in den Nachrichten ausreichend kontextualisiert sein. Die wenigen Journalist*innen vor Ort können Expert*innen sein, werden aber nie alles vermitteln können, was wir auf Social Media über „vergessene“ Orte ohne Hilfe erfahren haben. Warum machen es sich viele Medienhäuser so leicht? Nun liegt es in ihrer Verantwortung, ihre Überheblichkeit zu überwinden und zu realisieren, dass Menschen in Kurdistan, Syrien und der Türkei dazu gezwungen sind, Selbsthilfe und Self-Reporting zu nutzen, um die Lücken in der Berichterstattung zu schließen und falsche Informationen richtig zu stellen. Wie bitte, sonst hätten wir erfahren, dass Menschen in Jenderis, (Cindirês) in vielen kurdischen Gebieten oder in Teilen von Idlib lange keinen Support bekommen haben? Große Medienhäuser kamen erst nach Tagen des Erdbebens dazu, ausführlich darüber zu berichten.
Menschen vor Ort sind die erste Quelle, die tatsächlich die Realität widerspiegelt haben. Menschen vor Ort sind komplexe Wesen, ohne tausende Bücher über die Region gelesen haben zu müssen. Menschen vor Ort haben unter anderem auch durch die Unterstützung der Diaspora seit den ersten Stunden viel mehr geleistet als die Medien aus dem Westen oder die selbstdarstellenden Politik-Influencer*innen, die zu Beginn nicht mal einen Spendenaufruf teilen konnten. Stattdessen theoretisieren sie den Schmerz unserer Familien und Geschwister bis heute. Scham und Schande, dass diese Leute die Grenzen von Moral und Hilfe definieren. Westliche Journalist*innen sollten längst verstanden haben, dass Syrien und Kurdistan nicht Teil der Türkei sind. Die Berichterstattung über die Türkei darf gerne fundiert sein, sie sagt aber nichts über andere Gebiete. Dadurch kann ich in Deutschland nicht wissen, wie meine Heimatstadt oder andere Städte in Syrien vom Erdbeben und seinen Folgen betroffen sind. Dadurch müssen die Menschen dort diese Arbeit leisten. Ausnahmen waren überwiegend Journalist*innen, die selbst aus Syrien und den kurdischen Gebieten kommen. Syrien bleibt im Erdbeben-Diskurs ein Füllwort neben der Türkei.
Dass politische Player die Verteilung von Hilfsgütern und Spenden auch dazu nutzen, um ihre propagandistische Narrative zu pushen, sollten wir nicht aus dem Auge verlieren. Armut, Unterdrückung und Krieg sind nicht neu in der Region. Es handelt sich dabei auch nicht um Schicksal, sondern um eine politische Entscheidung. Das Erdbeben und seine Wirkung in den betroffenen Gemeinschaften machen das erneut klar. Der Westen konzentriert sich nur darauf, Migrationsbewegungen zu begrenzen. Vereinfachte Visumverfahren für Erdbebenbetroffene bedeuten für syrische Staatsangehörige: es bleibt kompliziert. Die Vereinten Nationen handelten sehr langsam. Entweder besitzen sie ein Fischgedächtnis, oder sie warten darauf, dass die restlichen Betroffenen weiter in Armut und Leid versinken. Kein Wunder, dass Selbstorganisierung vor Ort und in der Diaspora eine zentrale Rolle für die Bewältigung der Erdbebenfolgen spielt. Selbsthilfe kann aber nicht ausreichen, genauso wenig wie die Millionen der internationalen Hilfsstrukturen nicht ausreichen, die weiterhin in der Luft hängen oder in den Händen von Diktaturen liegen.
Krieg der Schlagwörter
Syrien ist ein beliebtes Schlagwort in Deutschland. Syrien steht für weitgefasste und schwer definierbare Begriffe: Krieg, Leid und Unterdrückung. Länder wie Syrien erscheinen oft in Auflistungen für schwere humanitäre Krisen, über die es wenig fundierte Berichterstattung gibt. Konkret bedarf es mehr an qualitativem Wissen.
Anscheinend stellen all die Orte und all das Leid der Menschen nichts Weiteres als eine Metapher für den Westen dar. Die Bilder von der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 sind eine schmerzhafte Bestätigung dafür. Orte, Kriege oder Krisen sind pauschale Schlagwörter, die entpolitisiert werden. Je näher ein Ort an Europa liegt und je westlicher etwas dargestellt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Menschen und die Geschichten vermenschlicht erzählt und dargestellt werden. Wir sollten die Weltkarte ausstrecken und mal hinschauen. Niemand hat es verdient, die Ausmaße einer Krise als Individuum oder nur im eigenen Kollektiv zu tragen. Anstatt Krisen als politische Manipulationswaffe zu nutzen, soll die Hilfe da ankommen, wo sie gebraucht wird.