Männer sterben bei uns nicht

Hauptsache, man wahrt die Form, trägt den richtigen Schmuck, den richtigen Rock in der richtigen Länge. Für Luises Großmutter war das nämlich die Lösung für alles. So soll es ihr nun auch ihre Enkelin nachmachen, die alles erben soll, was ihr gehörte und wofür sie stand. Auch das Anwesen am See hinter einer hohen Mauer, aus dem die Großmutter ihre Macht zog. Sie lebte dort in dem Herrenhaus in der Mitte, umgeben von mehreren kleineren Häusern. In diesen ließ die Patriarchin die anderen Frauen der Familie wohnen, bis auf Luise waren sie nur geduldet, sie genügten ihren Ansprüchen nicht. Männer gab es keine. Annika Reich bringt diese Frauen, die sich gegenseitig nur misstrauen können, in „Männer sterben bei uns nicht“ auf der Beerdigung der Großmutter zusammen, die anders abläuft als erwartet. Immer wieder springen die Gedanken der Ich-Erzählerin Luise zurück in die Zeit ihrer Kindheit – als auch dann noch die Form gewahrt werden sollte, als sie zwei tote Frauen am See fand oder als ihre Schwester verschwand. Nur langsam gelingt es Luise, sich zu befreien. Das Unausgesprochene und Angedeutete durchzieht den Roman, dessen Figuren ein wenig blass bleiben. Dennoch ist es möglich, sich in sie hineinzuversetzen, denn wer kennt den Namen des Systems der Großmutter nicht: Patriarchat. Ana Maria Michel

–  Annika Reich „Männer sterben bei uns nicht“
( Hanser Berlin, 208 S., 23 Euro )

Siegfried

An dem heißen Sommermorgen, an dem die Ich-Erzählerin beschließt, in die psychiatrische Ambulanz zu fahren, weiß sie nicht, wie sie durch den Tag kommen soll. Dort kennt sie niemand, sie kann sich ein bisschen ausruhen und einfach ins Wartezimmer setzen. Einfach mal das ewige Weitermachen unterbrechen, sich eine kurze Pause nehmen. Pause vom anstrengenden Leben als Mutter, als Autorin, die dringend an ihrem nächsten Buch arbeiten muss, da der Vorschuss bereits aufgebraucht ist, als Partnerin, die am Abend zuvor Alex gestanden hat, ihn betrogen zu haben, als Tochter von Siegfried, ihrem Stiefvater, der jedoch schon immer da war, von den Erlebnissen in ihrer Kindheit, vom Leben als Frau am Ende ihrer Kräfte. Antonia Baum deutet in ihrem neuen Roman vieles an, vieles bleibt im Nebel der Erinnerung unscharf oder wird nicht auserzählt. Dennoch erahnt man die Grausamkeiten, die sich ereignet haben, die Ausraster, die Gewalt und den Terror, die vielen Probleme, die sich überall verstecken. Zugleich schafft sie es, dass man als Leser*in all diese Dinge deutlich mitfühlt. Dies liegt zum einen daran, dass sie ihre Figuren so eindrücklich darstellt, dass man deren ganzes Leben vor sich sieht. Zum anderen aber auch an ihrer Fähigkeit, die ambivalenten Gefühle der Ich-Erzählerin gegenüber den anderen Figuren in ihrem Leben so genau aufzuzeigen. Nicole Hoffmann

– Antonia Baum „Siegfried“
( Claassen, 272 S., 24 Euro )

 

Second-Class Citizen

Von klein auf kümmert sich Adah um sich selbst. In den 1940er-Jahren im nigerianischen Lagos geboren, realisiert sie schnell, dass sie für den Großteil ihrer Familie „nur“ ein Mädchen ist. Wissbegierig erkämpft sie sich ihre Schulbil- dung und folgt als junge Frau ihrem Ehemann nach London. Doch ihr Traum von einem Leben in Freiheit und Selbstständigkeit zerbricht an der britischen Wirklichkeit – und den rigiden Geschlechterbildern ihres Mannes. Als Schwarze Frau gilt sie für die ehemalige Kolonialmacht genauso wie in ihrer Ehe als „Second-Class Citizen“, als Bürgerin zweiter Klasse. Bereits 1974 erschienen, folgt der zweite Roman der nigerianischen Autorin Buchi Emecheta in wei- ten Teilen ihrer eigenen Biografie. Das Werk liegt nun in einer sorgsamen und den zeitlosen Geist des Buches treffenden Neuübersetzung von Marion Kraft vor. In ungekünstelter Prosa und mit dokumentarisch-soziologischem Blick erzählt Emecheta von Adahs Anstrengungen, sich als Mutter von fünf Kindern und Ernährerin der Familie gegen den alltäglichen Rassismus, die Gewalt ihres Ehemanns und die Armut zu wehren. Denn immer ist da ihr Drang, ein eigenständiges Leben zu führen, ihren fünf Kindern eine Mutter
zu sein – und Schriftstellerin zu werden. Emechetas feministischer Klassiker ist Zeugnis dieser Emanzipation. Hanna Kopp

– Buchi Emecheta „Second-Class Citizen“ ( Aus dem Englischen von Marion Kraft. Blumenbar, 285 S., 23 Euro )

Tage im Mai

Der Mai, Wonne- und Hochzeitsmonat, Revolutionsbeschleuniger und Neumacher, hat im neuen Roman von Marlene Streeruwitz so gar nichts Beschwingtes. Konstanze, 56, Übersetzerin, und ihre Tochter Veronica, ca. zwanzig und Studienabbrecherin, schleppen sich im Mai 2022 durch verregnete Tage im noch nicht ganz postpandemischen Wien. In diesem „Roman dialogué“, in dem die Perspektiven von Mutter und Tochter eher nebeneinanderher existieren, statt miteinander zu kommunizieren, hängt die Schwere der vergangenen Lockdowns, des begonnenen Krieges und des drohenden Klimawandels wie eine bleierne Decke über den Protagonistinnen. Konstanze sieht sich nach einer neuerlichen Trennung und immer stärker wegbrechenden Aufträgen auf dem Weg in eine endgültig prekäre Existenz, ihre Tochter, Nizzi mit Spitznamen und uneheliche Tochter in dritter Generation, kann aufgrund der bedrückenden Weltlage schon gar keine Wünsche mehr an irgendeine Zukunft formulieren. Verschiedenste Charaktere wie windige Geschäfte machende, übergriffige Heuchelkatholiken, narzisstisch gestörte Klima-Boys, ein gescheitertes Schweizer Bohème-Verleger- pärchen oder eine mysteriöse Putzkraft bevölkern diesen wie immer sprachstarken Roman, der die – auch politische – Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit zusätzlich formal deutlich macht, indem er sich einem stringenten Plot verweigert und mit unterschiedlichsten Formaten wie z. B. der seitenlangen Nacherzählung einer fiktiven Netflix-Serie operiert. Und gerade mit dieser Verneinung einer konsumierbaren Eindeutigkeit lässt er doch noch einen Hoffnungsblitz über dem lärmenden Prater, über weite Strecken Nebenschauplatz des Romans, aufgehen. Denn solange Literatur noch Kritik um der Kritik willen üben kann, ist alles denkbar. Sonja Eismann

Marlene Streeruwitz „Tage im Mai“
( S. Fischer, 381 S., 26 Euro )

Wo die Fremde beginnt

„Wo die Fremde beginnt“, fragt sich Journalistin Elisabeth Wellershaus in ihrem Buch, in dem sie selbst das Subjekt ist, das sie mit soziologischem Blick betrachtet. Wellershaus ist in einem bürgerlichen Stadtteil Hamburgs aufgewachsen – als Schwarzes Kind mit Vater in Andalusien, den sie nur im Sommer sah, ist sie in dieser Umgebung selbst die Fremde. Und doch ist ihre Geschichte keine klassische Geschichte der Ausgrenzung, denn mit ihrer relativen Wohlstandsbiografie hat auch sie viele Privilegien. Die werden Wellershaus gerade dann bewusst, wenn sie, die seit vielen Jahren in Berlin-Pankow lebt, Spaziergänge in die ungemütlicheren Ecken des benachbarten Weddings machte und dort „ein Fremdeln reproduzierte, in dessen Fokus ich andernorts selbst stand“. In „Wo die Fremde beginnt“ reflektiert Elisabeth Wellershaus über Themen wie Arbeit, Stadtleben oder Freund*innenschaft auf einer persönlichen Ebene und aus ihrer Perspektive als Schwarze Frau, die immer auch universelle Schlüsse zulässt. Wer sich eingehender mit sozialer Ungleichheit, Rassismus und Gentrifizierung beschäftigt hat, wird einige vertraute Gedanken darin finden. Aber gerade durch ihre par- tikuläre Biografie ist „Wo die Fremde beginnt“ ein wertvoller, lesenswerter Beitrag ebenso zu Fragen um afropäisches Leben wie um die Suche nach Identität und den Appell, den eigenen Nachbar*innen die Hand zu reichen. Isabella Caldart

Elisabeth Wellershaus „Wo die Fremde beginnt. Über Identitäten in der fragilen Gegenwart“ ( C. H. Beck, 158 S., 22 Euro )

Liebes Arschloch

Ungewöhnlich versöhnlich lässt Virginie Despentes ihren neuen Roman enden – mit der Aussicht auf ein freundschaftliches Treffen nämlich, womit keinesfalls zu rechnen war. Die Geschichte beginnt mit einer Beleidigung, Schriftsteller Oscar lästert im Internet über das Aussehen von Schauspielerin Rebecca. Diese reagiert erst ablehnend, dann zunehmend interessiert. Dritte Protagonistin ist die feministische Bloggerin Zoe, die Oscar der se- xuellen Belästigung beschuldigt und dadurch Rebeccas Interesse weckt. „Liebes Arschloch“ ist jedoch weniger ein #MeToo-Roman, sondern ein Dreieckskammerspiel der
Erinnerungen, Süchte und des Clean-Werdens. Rebecca, von Despentes recht unkaschiert nach dem Vorbild der Schauspielerin Beatrice Dalle gestaltet, und Oscar öffnen sich immer mehr, berichten (durchaus wehmütig) von Alkohol- und Heroinabstürzen und bestärken einander darin, mit den Drogen aufzuhören. Das klingt fast ein bisschen zu schön, aber keine Sorge. Despentes schreibt wie gewohnt messerscharf, schonungslos und angriffslustig. Einziges Manko ist die Form: Despentes hat den Briefroman wiederbelebt und lässt ihre Figuren E-Mails austauschen, die in Länge und Detailreichtum wenig realistisch erscheinen. Auch dass sich Rebecca überhaupt auf den Kontakt zu Oscar einlässt, wirkt arg konstruiert. Abgesehen davon, ist „Liebes Arschloch“ ein mehr als würdiger Nachfolger der Subutex-Trilogie. Christina Mohr

Virginie Despentes „Liebes Arschloch“ ( Aus dem Französischen von Ina Kronenberger & Tatjana Michaelis. Kiepenheuer & Witsch, 336 S., 24 Euro )

Hello Everybody

Die Wiener Autorin Puneh Ansari schreibt seit Jahren ihre Texte fürs Internet und wurde hauptsächlich über Facebook-Posts bekannt. Dafür – oder gerade deswegen – ist ihr zweites Buch „Hello Everybody“, eine Sammlung von Texten, die zuerst auf Facebook zu lesen waren, ganz schön technikkritisch geraten. „Vielleicht werden wir einst von unsere Smartphones erschossen, ins Gesicht“, schreibt Ansari und das ist viel lustiger, empathischer und menschenfreundlicher, als es auf den ers- ten Blick klingt. Die Kurzessays erzählen von absolut sinnentleerten Social-Media-Debatten, Preppertum und Gemüseeinkochen, von klei- nen Tieren wie Ameisen und Bienen und ihren surrealen Erlebnissen – meistens auf der Wiener Donausinsel –, drehen sich um die Sehnsucht
nach Normalität und um all die Grausamkeiten, die der Alltag so bereithält. Dabei beschreibt Ansari Ideen für eine lebenswerte Zukunft („Eigentumswohnungspflicht für alle“) und die Rebellion dagegen (Die Menschen würden sich gegen diese Bevormun- dung wehren, Slogan: „Eigentum ist schlimm“). Doch egal wie düster die Texte manchmal wirken – stets schimmert Liebe für die Menschen an sich durch, für ihre Lächerlich- und Bedürftigkeiten. Ein lustiges und tröstliches Buch. Anna Mayrhauser

Puneh Ansari „Hello Everybody“
( Mikrotext, 192 S., 20 Euro )

Lapvona

„Lapvona“ ist Ottessa Moshfeghs vierter Roman und bleibt dem Stil der Autorin treu: Das Werk ist geprägt von grotesker Grausamkeit, expliziter Gewalt und unerschöpflichem Unmut. Im mittelalterlichen Dorf Lapvona herrscht Ungerechtigkeit. Während der Fürst Villiam ein berauschendes Leben im Überfluss führt, hungern die Bewohner*innen Lapvonas, unter ihnen auch Malek, der Sohn des Lammhirten Jude. Der Junge entkommt der Gewalt seines Vaters, um gelegentlich die blinde Dorfkräu- terhexe Ina zu besuchen. Als Malek eines Ta- ges Jacob, den Sohn des Fürsten, tötet, wird er Fürst Villiam vorgeführt. Dieser hat jedoch für den Tod seines Sohnes keine Gefühlsregung übrig. Stattdessen schlägt er dem Lammhirten Jude vor, Malek als Ausgleich für den Verlust zu behalten. Eine baldige Hungersnot zwingt die Bewohner*innen Lapvonas, sich von Insekten und menschlichen Überresten zu ernähren. Ottessa Moshfeghs Liebe zu detailreich ausgeschmückter Brutalität und komplizierten Persönlichkeiten führt jedoch im Verlauf des Romans manch- mal dazu, dass die Autorin die Übersicht über ihre vielen Charaktere und inhaltlichen Wen- dungen verliert und Inhaltsstränge im Sand verlaufen. „Lapvona“ ist nichts für schwache Mägen und sensible Herzen, so viel ist klar. Ann Toma-Toader

– Ottessa Moshfegh „Lapvona“ ( Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Hanser Berlin, 336 S., 26 Euro)

Ich bin Victorine

Das Kinderbuch „Ich bin Victorine“ von Jet van Overeem zeigt eindrucksvoll, wie Mobbing zu Minderwertigkeitsgefühlen, Rückzug und Einsamkeit führt. An der Hauptfigur Victorine scheint ihren Mitschüler*innen nichts zu passen: Ihr Haar ist falsch, ihre Beine zu lang und ihr Name eignet sich prima für gemeine Sprechchöre. Bald mag Victorine sich selbst nicht mehr und gibt sich die Schuld für das Verhalten der anderen. Doch dann kommen die Sommerferien und Victorine hat Pause von fiesen Kommen- taren. Sie findet Ruhe in einer Traumwelt, die ihr eine Brücke zu sich selbst baut. In diesem Buch überzeugen vor allem die einfühlsamen und atmosphärischen Illustrationen von An- nemarie von Haeringen: Nacktheit und ein überdimensioniertes leeres Zimmer zeigen Victorines Einsamkeit, die Darstellung ihrer Mitschüler*innen als Hyänen und Papageien ihr Bedrohungsgefühl. Sprachlich wirkt „Ich bin Victorine“ mit teils umständlichen Metaphern jedoch eher an einer Erwachsenenästhetik ausgerichtet. Auch die Übersetzung aus dem Niederländischen ist mitunter holprig. Dass Victorine von niemandem gerettet wird, sondern sich durch ihre Fantasiewelt und den Fokus auf ihr zugewandte Personen schließlich selbst ermächtigt, macht „Ich bin Victorine“ dennoch zu einem angenehm untypischen Kinderbuch zum Thema Mobbing. Laura Schiemann

– Jet van Overeem & Annemarie von Haeringen „Ich bin Victorine“ ( Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, 37 S., 14 Euro,
ab 7 Jahren )

Unberechenbar

Dana Spiottas fünfter Roman ist eine Coming- of-Age-Geschichte. Nur nicht die eines Teenagers, sondern einer Frau in den Wechseljahren. Eigentlich eine reizvolle Ausgangslage, denn sie bietet die Möglichkeit zur längst überfälligen Destabilisierung des uralten Klischees, dass nur Männer das Recht haben, sich in der Midlife-Crisis neu zu erfinden und kindisch zu agieren. Spiottas Heldin Sam Raymond, 53, Hausfrau und Gattin eines wohlhabenden, politisch liberalen Mannes, nutzt den damit einhergehen- den Blumenstrauß an Optionen ganz auf ihre Weise: Sie verlässt Mann und Teenagertochter im Vorstadteigenheim, um sich solo in einem heruntergekommenen Architekturjuwel in der „gefährlichen“ Innenstadt von Syracuse einzurichten, trifft sich mit verschiedensten feministisch-menopausalen Aktivist*innen, schminkt sich nicht mehr und schnibbelt sich die grauen Haare kurz. Als sie von der Krankheit ihrer geliebten freaky Mutter erfährt, ihre Tochter nicht mehr mit ihr spricht und sie zudem Zeugin rassistischer Polizeigewalt in ihrem Viertel wird, gerät alles noch mehr ins Wanken. Leider erschließt sich aus den verschiedenen Handlungssträngen rund um die drei Frauengene- rationen nicht, woran die überprivilegierte Raymond so leidet bzw. wogegen sie rebelliert: Ihr Ehemann ist auch nach ihrem Auszug treu sorgend für sie da (und kauft ihr mal eben das neue Häuschen in der Stadt), ihr feministisches Engagement rund um wirre Verschwörungstheoretikerinnen und die fiktive historische Frauenrechtlerin/Eugenikerin Clara Loomis folgt keinem roten Faden, und der rassistische Mord an einem Teenager dient im Plot letztlich nur als Katalysator einer weißen, höchst individualisierten Sinnkrise. Auch wenn die Beschreibung irrationalen und egoistischen Verhaltens in der Menopause durchaus erfrischend ist, wirkt das Rebellinnentum ohne Ziel im Herzen der weißen, alles sanft abfedern- den Bourgeoisie schal. Sonja Eismann

– Dana Spiotta „Unberechenbar“
( Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Kjona, 352 S., 25 Euro )

Schrödingers Grrrl

Marlen Hobracks Debütroman „Schrödingers Grrrl“ handelt von der jungen, arbeitslosen und depressiven Mara, die ihre Tage auf In- stagram verbringt und durch einen Zufall in ein Geflecht aus Lügen hineingezogen wird. Unsicher, fremdbestimmt von der Welt des Influencer*innentums, beziehungsängstlich und perspektivlos lebt Mara in den Tag hinein. Sie quält sich von Arbeitsamtterminen zu Therapiesitzungen und findet Zuflucht bei ihrer abwesenden Teilzeitmessy-Mutter oder in der Lieblingsbar. Dort begegnet sie eines Abends Hanno, einem PR-Agenten, der in ihr das Gesicht für ein neues Projekt sieht. Ein al- ter weißer Mann hat ein Buch geschrieben und Hanno möchte einen jungen weiblichen Namen aus der Unterschicht auf dem Buchcover sehen – zu Vermarktungszwecken. Mara stimmt zu und ihr wird die Autorinnenschaft wie ein Kuckucksei untergeschoben. Zwar kann sie sich jetzt endlich teure Klamotten leisten und wird gesehen, doch auch in den großen Hotelbetten auf Lesereise vergisst Mara die Lüge, die sie al- len auftischt, nicht. Und irgendwie fühlt sie sich immer noch wie ferngesteuert von der Welt, in der sie lebt: von Social Media, von Hanno und von der kritischen Leser*innenschaft. Und dann ist da auch noch der Herzschmerz; denn dieser macht auch vor den Türen eines Literatursternchens
nicht halt. Während Mara sich selbst in ihrem angeblichen Buch und dessen Protagonistin nicht sehen kann und möchte, verwischen für uns die Protagonistin im Buch und die „echte“ Mara, Autofiktion und Realität verschwimmen. Dazu kommen Zeitsprünge und Perspektivwechsel verschiedener Charaktere, die ein Gefühl der Rastlosigkeit entstehen lassen und uns die Hauptfigur Mara in ihrem Durcheinander noch näherbringen. Marlen Hobrack schreibt frei heraus, bedingungslos ungemütlich und nah- bar. Die Lustlosigkeit der Protagonistin sickert durchs Papier bis zur lesenden Person und er- füllt mit Unwillen, Mitgefühl und Faszination. Vanessa Sonnenfroh

– Marlen Hobrack „Schrödingers Grrrl“
( Verbrecher Verlag, 270 S., 24 Euro )

Zur Zeit

Während Eileen Myles im englischsprachigen Raum nicht aus der lesbischen und queeren Literatur, insbesondere der Lyrik, wegzuden- ken ist, findet man in der deutschen Überset- zung recht wenig. Um genau zu sein, sind es gerade mal zwei Werke: Der viel beachtete Ro- man „Chelsea Girls“, 1994 erstveröffentlicht, erschien 2020, also über zwei Jahrzehnte später, auf Deutsch bei Matthes & Seitz. Und nun legt der Verlag mit „Zur Zeit“ nach. Das Essay, ursprünglich ein Vortrag an der Yale- Universität, handelt vom Schreiben und von der Zeit. Diese sei der entscheidende Faktor, der Myles zu dem*der Schriftsteller*in gemacht hat, welche*r dey heute ist. Denn Schreiben sei eine Alibibeschäftigung, etwas, das man vorgibt zu tun, während man eigentlich reist oder meditiert oder einfach lebt. Myles erzählt von dem Rechtsstreit mit der neuen Vermieterin der mietengedeckelten Woh-
nung im East Village, New York, aus der dey nach 42 Jahren rausgeschmissen werden sollte. Oder es geht um die Suche nach der verschollenen Kiste, die Myles’ Archiv beherbergt, natürlich ohne Sicherheitskopie, und um die finanziellen Zwänge, mit denen Myles als etablierte*r und dennoch prekär lebende*r Poet*in aus der Arbeiter*innenklasse konfrontiert ist. Philosophisch, anekdotisch und mit trockenem Humor springen wir zwischen diesen Bausteinen hin und her. Dabei wird es nachdenklich, aber auch lustig, etwa, wenn Myles darüber spricht, warum dey Fremden gegenüber ungern erwähnt, dass dey schreibt: „Oder sie sagen ich wollte auch immer schreiben. Ihre Augen werden irgendwie verträumt, so wie man gucken soll wenn man professionell fotografiert wird.“ Es bleibt zu hoffen, dass mit der Zeit mehr Übersetzungen folgen. Hengameh Yaghoobifarah

– Eileen Myles „Zur Zeit“
( Aus dem Englischen von Milena Adam. Matthes & Seitz, 160 S., 20 Euro )