Missy Magazine 02/23, Filmrezis
© Ladybitches Productions

Ladybitch

Nachdem die Regisseurinnen Marina Prados und Paula Knüpling selbst als Schauspielerinnen tätig waren, thematisieren sie jetzt in ihrem Regiedebüt ihre Erfahrungen mit Machtmissbrauch in der Branche. „Ladybitch“ erzählt von Ela, die in ihren frühen Zwanzigern eine Rolle bei einem bekannten Berliner Theaterregisseur erhält. Dieser wird als kreatives Genie gefeiert, sieht sich selbst als Feminist, hält seine Arbeit für empowernd – und schreibt sexistische Theaterstücke, überschreitet die Grenzen der Schauspieler*innen und ist ihnen gegenüber sexuell übergriffig. Als sich Ela und ihre Kolleg*innen wehren, verfällt er in Selbstmitleid und stellt sich als Opfer dar – und das so extrem, dass es fast schon überzogen scheint, wäre es nicht so nah an der Realität. Sowieso wirken die Geschehnisse sehr echt. Das dürfte zum einen am autobiografischen Einfluss durch Prados und Knüpling liegen, zum an- deren an der Gestaltung des Films in Form eines Making-ofs. Zum Teil zieht sich die Handlung dadurch etwas, vor allem aber ist sie authentisch. Denn „Ladybitch“ zeigt auf schonungslose Weise, wie in der Kreativ- szene Berlins oft auf progressiv gemacht wird, während patriarchale Machtstrukturen hinter den Kulissen bestehen bleiben. Lena Mändlen


„Ladybitch“ DE 2022 ( Regie: Marina Prados & Paula Knüpling. Mit: Celine Meral, Christoph Gawenda u. a., 97 Min. )

Missy Magazine 02/23, Filmrezis
© Grandfilm GmbH

Music

Verletzte Füße, ein Kreuzworträtsel, tragische Tode und ein ausgesetztes Baby – wer sich mit dem Ödipusmythos auskennt, kann die Bezüge in Angela Schanelecs neuem Spielfilm erkennen. Zur Erinnerung: Ödipus war der, der unwissentlich seinen Vater tötete, die eigene Mutter heiratete und sich schließlich die Augen ausstach. Schanelecs Ödipus heißt Jon, ist adoptiert und kennt seine leiblichen Eltern nicht. Wegen eines fatalen Unfalls muss er ins Gefängnis und lernt dort Wärterin Iro kennen. Jons Sehvermögen verschlechtert sich zusehends, bis er erblindet. Ähnlich dem Ödipus der Antike scheint auch auf Jons Leben ein Fluch zu liegen. Entsprechend hat er einen Bewältigungsmechanismus gefunden, um der Welt zu begegnen: nämlich singend. Kenntnisse in Mythologie sind kein Muss, um „Music“ zu schauen, Lust auf beeindruckend minutiös komponierte Bilder griechischer Landschaften sowie Ausdauer, den doch sehr normschönen Körpern vor der Kamera beim Schweigen zuzusehen, braucht es aber. Denn in „Music“ gibt es mehr Musik als Dialoge – und das zeugt nicht nur von einem passend gewählten Titel: Sie habe versucht, Bilder für Ereignisse zu finden, für die es keine Worte gibt, so Schanelec. Und diese Bilder sind so sagenhaft wie bedeutsam, dass sie es problemlos mit dem alten Ödipus aufnehmen können. Eva Königshofen


„Music“ DE/FR/SRB 2023 ( Regie: Angela Schanelec. Mit: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Argyris Xafis, Marisha Triantafyllidou u. a., 108 Min., Start: 04.05. )

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© Freischwimmer Film

Liebe Angst

Lore Kübler lebt in einer kleinen Wohnung in Bremen, die einem Zet- telkasten gleicht: Überall stapeln sich Zeitungen und Karteikarten. Ihre Tochter, Mezzosopranistin Kim Seligsohn, wohnt in Berlin. Lore ist Jüdin. 1941 erlebte sie mit, wie ihre Mutter von den Nazis abgeholt wurde, zwei Jahre später wird diese in Auschwitz ermordet. Als sechsjähriges Kind überlebt Lore nur, weil sie auf dem Dachboden versteckt wurde. Die Vergangenheit bleibt zwischen Mutter und Tochter eine Leerstelle, Lore spricht kaum über ihr Schicksal. Kim forscht in Archiven nach Spuren der Familie und engagiert sich gegen das Vergessen – eine Selbstvergewisserung, wenn sich in ihr ein Abgrund auftut. In ihrem intimen Dokumentarfilm, an dessen Drehbuch Seligsohn selbst beteiligt war, nimmt sich Filmemacherin Sandra Prechtel Zeit beim Erzählen und gibt den Porträtierten Raum, ohne sie auszustellen. Ein Friedhofsbesuch, ein Spaziergang mit Hunden, ein Telefonat: Die Regisseurin begleitet beide Frauen beim Erinnern, beim Weiterleben, beim Versuch, sich einer undenkbaren Realität zu stellen. Ihren Schmerz und ihre Wut über die Sprachlosigkeit der Mutter, aber auch die untrennbare Nähe zu ihr, übersetzt Kim in Musik. „Sometimes I Feel Like A Motherless Child“, singt sie und ganz am Ende: „Ich grolle nicht.“ Hanna Kopp


„Liebe Angst“ DE 2022 ( Regie: Sandra Prechtel. 81 Min., Start: 23.03. )

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© Pandora Film / Row Pictures

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Das Genre Coming-of-Age begeistert viele Filmemacher*innen und Zuschauer*innen, weil es sich um ein Übergangsstadium handelt: Die Protagonist*innen treten von einem Lebensabschnitt in den nächsten. Ausgang ungewiss – und auch gerade deswegen so interessant. „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ durchläuft diesen Prozess auf zwei Ebenen: Sowohl die Protagonistin Maria (Marlene Burow) als auch ihr gesamtes Umfeld befinden sich in einem radikalen Umbruch. Im Jahr 1990 in einem Dorf in Thüringen nach dem Mauerfall sucht Maria ihren eigenen Weg. Der Makrokosmos dieser Verfilmung der gleichnamigen Romanvorlage von Daniela Krien handelt wie beiläufig Gesellschafts- kritik ab. Vor allem zeichnet Regisseurin Emily Atef jedoch mit warmen Szenen und Farben, die nicht selten an „Call Me By Your Name“ erinnern, im Mikrokosmos einen Schauplatz des puren Verlangens. Dieses wird zwischen Maria und ihrem Nachbarn Henner (Felix Kramer) entfacht und führt in einer intensiven Steigerung durch den Handlungsrahmen. Sanfte Berührungen und rohe Gewalt, im emotionalen wie körperlichen Sinne, prägen das Beziehungsgeflecht der beiden Figuren. Neben den daraus resultierenden uneindeutigen Machtdynamiken steht so vor allem eine Frage im Fokus: Wie findet man das Selbst im Gegenüber? Julia Köhler


„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ DE/FR 2023
( Regie: Emily Atef. Mit: Marlene Burow, Felix Kramer, Jördis Triebel u. a., 129 Min., Start: 13.04. )

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© Dulac Distribution

Mediterranean Fever

Der Familienvater Waleed lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Haifa und versucht sich am Schreiben eines Romans. Er ist depressiv, seine Hoffnungslosigkeit ist Sinnbild für die politische Lage im Nahen Osten. Während Waleed versucht, seine Schreibblockade zu überwinden, läuft meist der Fernseher, im Hintergrund flimmern zerbombte Gebäude und es warten stets neue schlechte Nachrichten. Sein Sohn leidet unter chronischem Bauchweh, einem Schmerz, der letzten Endes auch mit dem Nahostkonflikt verbunden ist. Als in der Wohnung nebenan Jalal einzieht, verändert sich Waleeds Leben schlagartig. Die anfängliche Abneigung gegenüber dem Macho weicht einer Faszination, die in einer ungleichen Freundschaft mündet. Doch Waleed bittet seinen neuen Freund schon bald um einen brutalen Gefallen. In „Mediterranean Fever“ werden weinende Männer und das seltene Bild eines psychisch kranken arabischen Mannes inklusive Therapiesitzungen und Panikattacken auf der Leinwand gezeigt. Regisseurin Maha Haj bricht in ihrem Film mutig Stereotype auf und porträtiert verwundbare Männer mittleren Alters, die sich einander anvertrauen; mal beim Kuchenessen, mal bei der Jagd. Eine feinfühlige Studie über Depressionen, politische Perspektivlosigkeit und Freundschaft. Vanessa Sonnenfroh


„Mediterranean Fever“ PSE/DE/FR/CYP/QAT 2022
( Regie: Maha Haj. Mit: Amer Hlehel, Ashraf Farah, Anat Hadid, Cynthia Saleem u. a., Start: 04.05. )

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© Mika Cotellon – 2022 Gaumont – France 2 Cinéma – Gaumont animation – Ressources 2022

Neneh Superstar

Die zwölfjährige Neneh hat einen Traum: professionelle Tänzerin zu werden. Als sie an der renommierten Ballettschule der Pariser Oper auf- genommen wird, kommt sie diesem näher – und realisiert schnell, dass sie als einziges Schwarzes Mädchen an der elitären Institution kaum eine Chance auf Gleichbehandlung hat. Mit der bewegenden Dramödie „Neneh Superstar“ kritisiert der Regisseur Ramzi Ben Sliman, wie tief rassistische Strukturen in der französischen Kultur verwurzelt sind. Und das gelingt, nicht zuletzt dank des schauspielerischen Talents der Hauptdarstellerin Oumy Bruni Garrel. So verkörpert sie im Laufe der Handlung eindrücklich, wie sich Nenehs Gefühle von purer Begeisterung am Tanzen in eine Desillusionierung über ihre Lebensrealität ver- wandeln. Wegen des andauernden Mobbings durch ihr Umfeld beginnt sie, dessen rassistische Denkweisen selbst zu internalisieren. Und es schmerzt, als Neneh ihrer Mutter vorwirft, sie wäre aufgrund deren afrikanischer Gene nicht dazu in der Lage, den notwendigen Ballerina- körper zu entwickeln – und als sie später schreit, dass sie einfach nur weiß sein möchte. „Neneh Superstar“ wühlt auf: Der Film zeigt einmal mehr, wie sehr die weiße Dominanzgesellschaft BIPoC bereits im Kin- desalter vermittelt, dass sie nicht gut genug wären. Lena Mändlen


„Neneh Superstar“ FR 2022 ( Regie: Ramzi Ben Sliman. Mit: Oumy Bruni Garrel, Maïwenn, Aïssa Maïga u. a., 97 Min., Start: 06.04. )

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© jip film & verleih gbr

Vamos a la Playa

Drei deutsche Freund*innen reisen mit einem Auftrag nach Kuba: den verschollenen Wanja (Jakub Gierszal) finden und ihm eine Nachricht überbringen. In der Karibik gelandet, sind jedoch schnell andere Dinge wichtig. Katharina (Victoria Schulz) will kubanische Männer aufreißen und ist bereit, für Sex zu zahlen. Zwischen Benjamin (Leonard Scheicher) und Judith (Maya Unger) beginnt derweil ein Flirt. Als der Tanzlehrer Ignacio (Eugenio Torroella Ramos) dazukommt, droht die Stimmung zu kippen. Auf Kuba trifft die Lebensrealität der reichen Urlauber*innen auf die prekäre der Einheimischen. Ein Ergebnis des gravierenden Machtgefälles ist der ausbeuterische Sextourismus. Vor dem Hintergrund der sozialen Ungleichheit verhandelt Regisseurin Bettina Blümner die ambivalenten Empfindungen und Sehnsüchte ihrer Protagonist*innen. Die Nähe der Handkamera und die Form des Videotagebuchs lassen tief in ihre Gefühlswelten eintauchen. Und hier liegt eben auch die Kritik, denn während die deutschen Charaktere Stimme und Komplexität er- halten, sind die kubanischen flach in ihrer Darstellung. Damit bestärkt der Film Stereotype, die er zu kritisieren versucht. Clementine Engler

„Vamos a la Playa“ DE/CUB 2022 ( Regie: Bettina Blümner. Mit: Jakub Gierszal, Leonard Scheicher, Victoria Schulz, Eugenio Torroella Ramos, Maya Unger u. a., 90 Min., Start: 27.04. )

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© RISE AND SHINE CINEMA 2020

Erica Jong – Breaking The Wall

Erica Jong wurde 1973 mit ihrem Debütroman „Angst vorm Fliegen“ schlagartig berühmt und gilt als eine der einflussreichsten Autor*innen der zweiten feministischen Welle. Mit der Dokumentation „Erica Jong – Breaking The Wall“ wollte ihr der Filmemacher Kaspar Kasics ein filmisches Denkmal setzen. Schade nur, dass es relativ oberflächlich bleibt und wir nicht mehr als einige flüchtige Blicke in Erica Jongs Leben werfen dürfen. Wir erleben sie nervös auf einer elitären Party in ihrem Apartment und gestresst in ihrem Ferienhaus, übertrieben gönnerhaft mit Schwarzen Schülerinnen eines Schreibkurses und mit einer jungen ägyptischen Schriftstellerin, die sie besuchen kommt, um von ihr zu lernen. So erweist sie sich im Verlauf des Films als das beste Beispiel für eine Vertreterin des weißen Feminismus: In ihrem Kampf um Gleichbe- rechtigung hat sie alle Antworten als Erste, ignoriert kontinuierlich die Belange und Errungenschaften marginalisierter Menschen und denkt gleichzeitig, sie könne die Welt retten. Avan Weis


„Erica Jong – Breaking The Wall“ USA 2022 ( Regie: Kaspar Kasics. 95 Min., Start: 23.03. )

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© 2023 tvbmedia productions

Dora – Flucht in die Musik

Dass der Kanon der klassischen Musik einen mikroskopisch kleinen Anteil Frauen enthält, war Anlass genug für Pianistin Kyra Steckeweh und Filmemacher Tim van Beveren, mehr über die in Vergessenheit geratene kroatische Komponistin Dora Pejačević zu erfahren. In „Dora – Flucht in die Musik“ dokumentieren sie ihre vierjährige Recherche und rekonstruieren mit vorgelesenen Zitaten aus Briefwechseln, Fotos und Steckewehs Interpretationen von Pejačević-Stücken am Klavier das Leben der Komponistin. Sie vermitteln das Bild einer starken Frau, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine eigene künstlerische Sprache abseits von Normen formen konnte. Dabei half es, dass Pejačević 1885 in eine Adelsfamilie geboren wurde und sich so langzeitig ledig und ohne Geldsorgen der Musik widmen konnte. Doch ihre Einstellung zum aris- tokratischen Leben wurde nach dem Ersten Weltkrieg und ihrer Arbeit beim Roten Kreuz kritischer. Sie, die sich als unabhängigen Menschen sah, konnte sich in ihrer Ganzheit nur auf dem Notenblatt zeigen und ihre komplexe Gefühlswelt in insgesamt 57 Kompositionen der Nachwelt überliefern. Da muss es als Erfolg gelten, dass der Film auch zeigt, wie Steckeweh und van Beveren die Erstaufführung von Pejačevićs einziger Symphonie in Leipzig ankurbelten – das macht den Film am hundertsten Todestag der Komponistin zu einem geglückten aktivistischen Vorhaben! Lorina Speder


„Dora – Flucht in die Musik“ DE/HR/AT 2022 ( Regie: Kyra Steckeweh, Tim van Beveren. 116 Min., Start: 09.03. )

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© Oslo Pictures

Sick of Myself 

Das Paar Signe und Thomas feiert in einem Nobelrestaurant Signes Geburtstag. Unter den Augen aller Gäste zelebriert der Kellner ihr zu Ehren das Abbrennen einer Fontäne, während Signe wirkt, als sei ihr diese quälend langsame Prozedur und die ganze Aufmerksamkeit unangenehm. Kurz darauf schnappt sich Thomas den teuren Wein und rennt davon. Signe gibt sich überrumpelt. Doch auch das ist Teil der Show, wie sich herausstellt. Während Thomas, der als Künstler das Thema Diebstahl zu seinem Kernthema erhoben hat und damit gerade groß rauskommt, bei Freunden mit diesem Coup angibt, wächst in ihr das Konkurrenzdenken. Sie macht erste Schritte, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: Bei einem Hundeangriff inszeniert sie sich blutverschmiert als Retterin; als sie Thomas auf ein Essen mit dessen Galeristen, Kuratoren und Kolleginnen begleitet, mimt sie einen Erstickungsanfall. Doch das reicht nicht. Für ihren narzisstischen Masterplan nimmt sie eine schlimme Krankheit und fortschreitende Entstellung in Kauf, erzeugt durch eine gefährliche Droge. Ihr Plan geht auf. Je schlechter es ihr geht, um so besser bekommt es ihrer Karriere. Die zunächst (un)romantische Komödie changiert ambivalent zwischen Psychodrama und Horrorfilm. Borgli, bekannt für verstörend-satirische Kurzfilme, spitzt hier seine Erkenntnis zu, dass nichts so lukrativ ist, wie eine „Opfer-Industrie“. Kujath Thorp verkörpert Signe perfekt: als Narzisstin in einem oberflächlichen, pseudo-intellektuellen Hipstermillieu. Imke Staats


„Sick of Myself“ NOR 2022 ( Regie: Kristoffer Borgli. Mit: Kristine Kujath Thorp, Eirik Sæther u.a., 98 Min., Start: 23.03. )

 

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/23.