Missy Magazine 03/23, Sonderausgabe, Musikrezis

Indigo De Souza
„All Of This Will End“
(Saddle Creek)

„Ich habe als Teenager einiges an Dunkelheit und Funktionsstörungen durchgemacht. Aber wenn ich diese Dinge nicht durchgemacht hätte, wäre ich nicht die, die ich jetzt bin“, o !enbart die junge US-amerikanische Musikerin Indigo De Souza über ihre dritte Platte, die auf ihr großartiges 2021er-Album „Any Shape You Take“ folgt. Erneut klingen De Souzas Texte wie Tagebuchskizzen, singt sie kaum eine Zeile zweimal, gibt es mal Radau-Grungerock und mal superschmales Elektro-Geplucker. Und natürlich De Souzas sehr variable Stimme, die mal kuschelig à la Lali Puna (am Anfang von „Time Back“), mal schneidend wie Liz Phair oder Kat Bjelland von Babes in Toyland in Songs wie „You Can Be Mean“ oder „Wasting Your Time“ anmutet. Der beste Song, um mit Freund*innen die Haare fliegen zu lassen, ist das flotte „Smog“ (im superschicken Video wird auch getanzt, aber wie!). Dreh- und Angelpunkt des Albums jedoch ist das elfte und letzte Stück, die wunderschöne Ballade „Younger & Dumber“. De Souza dazu: „Dieser Song ist ein Liebesbrief an das innere Kind von uns allen. Niemand kann uns darauf vorbereiten, wie wahnsinnig es ist, am Leben zu sein. Wie oft wir uns aus der Asche erheben müssen, und wie viel Mut es dazu braucht.“ Für dieses Wechselbad der Gefühle beim Erwachsen- und Altwerden hat De Souza einen schlauen, schnoddrigen, liebevollen und spaßigen Soundtrack geschaffen. Barbara Schulz

Missy Magazine 03/23, Sonderausgabe, Musikrezis

Nabihah Iqbal
„Dreamer“
(Ninja Tune)

Diese Welt ist nicht für uns gemacht, reflektiert die britische Musikerin Nabihah Iqbal auf „This World Couldn’t See Us“, einem Stück, das ihrem zweiten Album „Dreamer“ voranging. Vor sechs Jahren drückte Iqbal schon einmal ihre Liebe zu britischer Dance- und Post-Punk-Musik aus. Auf ihrem Debüt „The Weighing Of The Heart“ besang die britische Künstlerin, die sonst als DJ und Kuratorin in Erscheinung tritt, wie sich ein 9-to-5-Alltag auf die Psyche der Arbeitenden auswirkt. Auf dem Nachfolger hinterfragt sie nun den Raum, den wir in einer Welt, die oft exkludiert, zum Existieren haben. Lebhafte elektronische Drums und Claps eröffnen, bevor flächige Synths eine ätherische Atmosphäre verbreiten und der softe, gesprochene Gesang Iqbals sich wie eine Decke darüberlegt. Dieses Mal hat sie außerdem Harmonium und Sitar eingebaut, beides Instrumente, die sie während einer Reise nach Pakistan, dem Geburtsland ihrer Eltern, für sich entdeckt hat. Dort übte sie auf dem Badezimmerboden ihrer Großeltern und kaufte anderntags die Plattenläden von Karachi leer. Als DJ hat Iqbal nämlich eine sehr große Plattensammlung und einen ebenso breiten Musikgeschmack. „Dreamer“ überrascht daher fast mit seiner stilistischen Konsistenz. Doch steckt in den Details dieser Platte voll dunkler Eighties-Synthies Iqbals Persönlichkeit: z. B. im mit akustischen Gitarren gespielten Instrumentalstück „Lilac Twilight“ oder dem dancy „Gentle Heart“, das den Grenzverlust einer durchtanzten Nacht heraufbeschwört. Nabihah Iqbal erschafft auf „Dreamer“ eine wundervolle Klangwelt, in der wir vielleicht genau den Platz finden, der uns in der Wirklichkeit versagt bleibt. Diviam Hoffmann

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Hannah Jadagu
„Aperture“
(Sub Pop, VÖ: 19.05.)

Hätte das Erwachsenwerden einen Soundtrack, würde er nach Hannah Jadagu klingen. Auf „Aperture“ komprimiert sie ihre early Twenties auf zwölf Songs: „What You Did“ ist die Befreiung von einer schmerzhaften Beziehung, „Lose“ vertont den Nervenkitzel neuer Begegnungen: „It’s best if this is something new / So what am I scared to lose?“ Das Thema des Wandels zieht sich durch. Jadagu ist von Texas nach New York gezogen und so hat sich auch ihre Produktionsweise verändert. Während sie ihre erste EP „What Is Going On?“ vor zwei Jahren im DIYModus auf dem Handy zusammenschraubte, hat sie dieses Mal in einem Pariser Studio an ihren Tracks gefeilt. Alles anders jetzt? Nö, ihrer Konstante bleibt Jadagu treu: Fender Stratocaster forever! Das neue Album baut auf Gitarren auf, Verstärkung gibt’s oft von Drums und Synths. Das klingt mal soft und warm, mal verzerrt und pulsierend – irgendwo zwischen Bedroom-Pop, Electronica und leicht grungy Rock, der in der Ohrmuschel Nineties-Nostalgie aktiviert. Inhaltlich führen Zuversicht und Zweifel auf „Aperture“ eine Wechselbeziehung: Jadagu sucht nach der Schnittmenge zwischen Veränderungslust und der Sehnsucht danach, dass alles gleich bleibt. Was den Wachstumsschmerz lindert? Der laid-back Klang von Hannah Jadagus Stimme und die Gewissheit, die sie transportiert: Erwachsenwerden sucks, aber zwischendurch können wir auch mal die Aussicht genießen, es wird schon irgendwie alles gut. Alisa Fäh

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Lucinda Chua
„YIAN“
(4AD)

Wellen spülen sanft über Steine und rollen zurück in den Ozean. Die Abendsonne taucht ihre nassen Spuren in goldenes Schimmern. Es ist dieser Glanz, der dem Debütalbum „YIAN“, oder yàn ( Ḉ), von Lucinda Chua innewohnt. Die Londoner Cellistin und Produzentin webt musikalische Texturen wie Wasser – sanft und gleichzeitig kraftvoll. Ihr Album ist nach dem mandarin-chinesischen Wort für Schwalbe benannt, ein symbolträchtiges Tier in traditionellen Erzählungen. Die ambienten und minimalistischen Kompositionen auf „YIAN“ setzen sich mit der Identität der Künstlerin als Person mit britischen und chinesischen Wurzeln auseinander und verleihen dem Gefühl, zwischen Kulturen zu stehen, musikalischen Ausdruck. Ihre Stimme bettet sich dabei in die federleichten Klänge der Saiteninstrumente. Auf „Golden“ teilt Lucinda Chua flüsternd ihre Emotionen, bis die melancholische Einsamkeit der Strophen von einem Chor an Stimmen abgelöst wird, der ein Gefühl von Gemeinsamkeit vermittelt. Ihr Fingerspitzengefühl für minimalistisch orchestrierte Songs zeigt Lucinda Chua auf „Meditations On A Place“ und „I Promise“ sowie dem elektronisch anmutenden „Grief Piece“. „YIAN“ ist ein leises Album, aber schafft in dieser Ruhe einen Raum für persönliche Reflexionen zu Identität und Zugehörigkeit. Liv Toerkell

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Baby Rose
„Through And Through“
(Secretly Canadian)

Dass Baby Roses Stimme eine Nähe zu Nina Simone attestiert wird, liegt auf der Hand. Mit ihrer tiefen und rauchigen Tonlage schafft sie es, das volle Spektrum der Emotionen ihrer Texte Gänsehauttreibend zu transportieren. Aufgewachsen in Washington, D.C., wurde sie während ihrer Jugend aufgrund ihrer ausgefallenen Stimme noch zum Ziel von Bullies. Auf Familienfeiern fiel sie erstmals mit ihren Spoken-Word-Performances auf und begann folgend, Songs auf dem Klavier zu schreiben. Mit dem Umzug nach Atlanta während ihrer Collegezeit stieg die Singer-Songwriterin und Produzentin vollends in die städtische Musikszene ein und veröffentlichte ihr Debüt „To Myself“. Mit ihrem Nachfolger „Through And Through“ liefert Baby Rose, wie sie selbst sagt, heilende Musik für all jene mit einem gebrochenen Herzen. Baby Roses soulgeladene Vocals werden von vibrierenden Basslines und leichtfüßigen Disco-Arrangements begleitet. „Dance With Me“ liefert sowohl Blues als auch verträumte Lo-Fi-Einflüsse. Auf dem Feel-GoodTrack „I Won’t Tell“ regiert eine funky Bassline wie zu CHICs Hochzeiten, ergänzt um den smoothen Rap-Part von Smino. Und auf „Stop The Bleeding“ demonstriert die Sängerin, begleitet von einer Pianoballade, die Kraft ihrer immersiven Vocals. Ihre Wunden können Baby Roses Hörer*innen durch „Through And Through“ nicht ausblenden – dafür aber in ihren Emotionen baden. Und dem Baden wurde ja schon immer eine heilende Wirkung zugesagt. Sophie Boche

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Debby Friday
„Good Luck“
(Sub Pop)

Debby Friday hat ihr Debütalbum zwar „Good Luck“ genannt, doch bei dem knalligen Mix aus Clubsounds, poppigen Melodien, einer experimentellen und punkigen Attitüde ist sie nicht wirklich auf Glück angewiesen, um zu überzeugen. Die in Nigeria geborene und in Kanada aufgewachsene Künstlerin beschreibt ihre Musik selbst als „Donner“ und konfrontiert als queere Schwarze Frau das „Angry Black Woman“-Stigma mit einer mächtigen und lauten Platte, die es ganz bewusst in sich hat. Jahrelang in der Underground-Elektro-Szene in Nordamerika aktiv, übernahm die ehemalige DJ auf diesem Album nicht nur das Songwriting und die Aufnahmen ihrer Vocals, sondern steckt auch hinter der Produktion. Als Performerin schlüpft sie in den zehn Songs, die auf eine halbe Stunde Albumzeit kommen, in verschiedene Rollen, die sie so selbstverständlich abliefert, dass man Friday Superkräfte zuschreiben möchte. So wird die Musikerin in „What A Man“ mit quietschendem Gitarrensolo und lang gezogenem Gesang zur klassischen Rockerin, in der blubbernden Pop-Hip-Hop-Nummer „Heartbreaker“ ist sie Rapperin und im Titeltrack brilliert sie bei metallischen IndustrialSounds als House-Sängerin. Bei so viel Talent ist das einzige Glück, das Friday eventuell doch braucht, eine entstehende Aufmerksamkeit für ihr Werk, damit möglichst viele Menschen ihre Musik hören – der Rest wird sich dann für sie fügen. Lorina Speder

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Yaeji
„With A Hammer“
(XL Recordings)

Wer davon singt, bewaffnet mit einem Hammer Türen einzutreten, kann die eigene Wut kaum im Zaum halten, schreit womöglich laut zu harten Gitarrenriffs – würde man meinen. Doch wenn die 29-jährige Produzentin, DJ und Sängerin Kathy Yaeji Lee alias Yaeji auf ihrem Debüt „With A Hammer“ ebenjenes Szenario beschreibt („Michin“), dann wie auf einer Wolke sitzend mit wippendem Beat, der aus dem Super-Mario-Universum stammen könnte. Dabei geht es um mächtige Emotionen, die schon eine Weile weggesperrt wurden: Wut und Frustration sind Leitgedanken der 13 neuen Tracks, die wie schon bei den Singles „Drink I’m Sippin On“ und „Raingurl“ (beide 2017) zwischen englischer und koreanischer Sprache sowie Elektro und HipHop oszillieren. Und so verliert Zerstörungswut durch magische Flötensounds („1 Thing To Smash“) zwar etwas an Aggression, aber durch Wiederholungen bleibt die Intention sehr klar. Die in New York geborene Yaeji, die bereits für Dua Lipa remixte, bringt Songs auf den Dancefloor, die den Blick ins Innere suchen. Auf „With A Hammer“ entstehen zwischen Drum’n’Bass-Elementen und Videospielstimme persönlich klingende Gedankenspiele. „Done (Let’s Get It)“ etwa besingt eine Wehmut, familiäre Verhaltensmuster verinnerlicht zu haben, doch „Happy“ verzeiht das und verspricht mit der Zeit Selbstliebe. Yuki Schubert

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Arlo Parks
„My Soft Machine“
(Transgressive, VÖ: 26.05.)

Die Aufarbeitung von Trauma, Therapie und Heilung kann mitunter ermüdend und schmerzhaft sein. Doch spätestens jetzt sind wir alle nicht mehr allein mit unseren Päckchen: Arlo Parks hat mit ihrem neuen Album nämlich den Soundtrack für all unsere Heilungsprozesse geschaffen. Sanft, empowernd, glasklar und niemals beschönigend singt sich Arlo auf ihrer neuen Platte in Sicherheit. In den zwölf Songs erzählt sie von Liebe, PTBS, Missbrauch, Familie und Bewältigungsstrategien. Dabei kreiert sie einen tonalen Erste- Hilfe-Koffer für schmerzhafte Momente. Auf „My Soft Machine“ ist Arlo Parks erwachsener, noch zarter und noch stärker als auf dem Vorgängeralbum „Collapsed In Sunbeams“. „My Soft Machine“ klingt poppig, manchmal funky und ist ein bisschen größer produziert als ihre bisherigen Veröffentlichungen – was der Thematik gut steht. Das Intro „Bruiseless“ gibt den Ton der folgenden elf Lieder an: „I wish I was bruiseless, almost everyone that I love has been abused and I am included (…)“. Keine leichte Kost, und gleichzeitig so warm und soft gesungen, dass diese Platte wie ein Safe Space für jede*n Hörer*in ist. Arlo Parks zeigt uns mit diesem Album Werkzeuge auf, die beim Heilen helfen können: zärtlich mit sich sein, auf die eigenen Bedürfnisse hören und, wenn möglich, etwas Eskapismus, z. B. in Form von „cake in a room with a view“ („Room“). Vanessa Sonnenfroh

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Rahill
„Flowers At Your Feet“
(Big Dada)

Manchmal vermag es Musik, eine unglaubliche Wärme auszustrahlen, die genauso Wellness-mäßig wirkt wie ein warmes Bad oder eine Massage. So ist das auch bei dem neuen Album „Flowers At Your Feet“ von Singer-Songwriterin Rahill aus den USA. Das ehemalige Gründungsmitglied der Garage-Rock-Band Habibi aus Brooklyn versprüht mit ihrer ersten Soloplatte nostalgische Siebziger RetroVibes und überzeugt mit einem Stilmix aus Pop, Rock, Trip-Hop und Jazz, der einen sich einfach nur gut fühlen lässt. In den 14 neuen Kompositionen geht die iranisch-amerikanische Musikerin auf Themen wie Verlust, Familie und emotionale Verbindungen ein. So singt sie auf dem souligem Jazz-Track „Hesitations“ von einer zerbrochenen Liebe, die ihr immer noch nahe ist. Besonders gelungen ist hier das lebendige Kontrabassspiel und der plötzliche Umschwung in ein unerwartetes Outro gen Ende, das den chaotischen Gefühlsstrudel nach Beziehungsenden gut widerspiegelt. Ein poppigeres Highlight der Platte ist die Kollaboration mit Beck auf dem Song „Fables“. Mit charakteristischem Gitarrenmotiv und treibenden Drums in der Strophe hinterfragt Rahill hier ihre Wahrnehmung und singt „I must be dreaming“ im Chorus. Becks Gesang wird zum träumerischen Echo ihrer Stimme und trägt zur besonderen Stimmung bei, die zwischen einer naiven Sorglosigkeit und existenziellen Fragestellung schwingt. Super! Lorina Speder

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Feist
„Multitudes“
(Universal)

Leslie Feist ist zurück. Die kanadische Musikerin verschwand nach ihrem letzten Album „Pleasure“ für sechs Jahre von der Bildfläche des Musikbusiness, noch seltener sah man auf ihren Social-Media-Kanälen Aktivitäten und Einblicke in ihr Leben. Jetzt erzählt Feist in Interviews, was sie in den letzten Jahren bewegt hat. Global gab es eine Pandemie – das wissen wir alle –, die jahrelang das Leben lahm- und umlegte, privat ging es bei Leslie Feist ebenfalls um Leben und Tod. Sie wurde Mutter und adoptierte ein Baby, fast zeitgleich starb ihr Vater, zu dem sie eine intensive Beziehung hatte. Diese Erschütterungen des Lebens hören wir auf dem neuen Album „Multitudes“. Da sind zarte Töne rund um Mutterschaft und das Leben mit ihrer Tochter wie in „Forever Before“: Leslie Feists unvergleichliche Stimme in Kombination mit „ihrem“ Instrument, der Akustikgitarre, echt, nah, roh, einfach Feist. Doch es gibt auch die lauten Töne, etwa bei „Borrow Trouble“, wo gefühlt von der Flöte bis zur Geige jedes Instrument gleichzeitig zum donnernden Refrain aufspielt. Zu hören ist auch die verspielte Feist wie bei „I Took All My Rings O!“, ebenfalls ein Track, der im Ohr bleibt. Emotional und authentisch ist „Multitudes“, ein traurig-fröhliches Album – ein echter Soundtrack fürs Leben eben. Michaela Drenovaković

 Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/23.