153 Meter
Das körnige Bild zeigt einen Plattenbau bei Nacht. Einige Fenster sind erleuchtet, man erkennt Silhouetten von Bewohner*innen dahinter. Doch die Kamera interessiert sich nur für eine Wohnung, zoomt immer näher heran – und findet das Gesicht einer jungen Frau, die schläft. Je näher man ihr kommt, desto unschärfer wird das Bild, bis am Ende nur noch Rauschen bleibt. Hinter der Kamera: die Hausmeisterin Lana, die mit ihrer Mutter, die sie pflegt, gegenüber lebt. Ein hartes Leben zeigt Anton von Heiseler in seinem Spielfilmdebüt „153 Meter“. Glück empfindet Lana nur in ihrer Obsession für die junge Frau, deren vermeintliche Freiheit sie sich wünscht. Doch wer beobachtet hier eigentlich wen? Sind wir als Zuschauer*innen nicht auch Voyeur*innen? Diese interessanten Fragen wirft der Film auch in den intimen Situationen zwischen Lana und ihrer auf Hilfe angewiesenen Mutter auf. Und sie stellen sich umso mehr vor dem biografischen Hintergrund der drei Darstellerinnen, der die Grenzen zwischen Fiktion und Realität unscharf werden lässt. Emilia von Heiseler, die Zwillingsschwester des Regisseurs, spielt die Nachbarin. Lana wird von Michaela Caspar, der Mutter der beiden, dargestellt. Sie pflegt im Film ihre eigene Mutter: Maria Luise Preuß, die nach einem Sturz bettlägerig war und 2022 starb. Ana Maria Michel

„153 Meter“ DE 2022 ( Regie: Anton von Heiseler. Mit: Michaela Caspar, Maria Luise Preuß, Emilia von Heiseler u.a., 71 Min. )

Das Lehrerzimmer
Carla Nowak (Leonie Benesch) ist eine engagierte Sport- und Mathematiklehrerin. Ihre siebte Klasse nimmt sie schon mal ernster als das Kollegium. Als es an der Schule zu Diebstählen kommt und Lehrer*innen ihrem Schüler Ali unterstellen, der Täter zu sein, ist Carla empört und beschließt, ihre Klasse zu schützen. Dabei greift sie zu einer Methode, die ihr über den Kopf wächst. Schnell geht es nicht mehr nur um Diebstähle, sondern um Rassismus, Doppelmoral und Cancel Culture. İlker Çatak widmet sich feinfühlig dem Mikrokosmos Schule als Spiegel unserer Gesellschaft und verzichtet darauf, Privatleben darzustellen. Einziger Erzählort ist die Schule. Verhandelt wird vor allem, wie die Figuren mit schwierigen Entscheidungen umgehen. Zentral sind dabei die Themen Wahrheit, Gerechtigkeit und die Frage, wer als Sündenbock herhalten muss – wodurch sich Çatak kritisch gegenüber der aktuellen Debattenkultur verortet. Das schnelle Erzähltempo unterstreicht den wuseligen Schulalltag. Andauernd passieren an den Rändern der glasklaren Bilder zudem Sachen parallel. Zwischen aufgebrachten Eltern, rassistischen Kolleg*innen und angriffslustigen Schüler*innen versucht Carla in „Das Lehrerzimmer“, sachlich zu vermitteln, versinkt dabei aber immer tiefer in einer Spirale aus Anschuldigungen und Machtspielchen. Wenke Bruchmüller

„Das Lehrerzimmer“ DE 2022 ( Regie: İlker Çatak. Mit: Leonie Benesch, Eva Löbau, Michael Klammer u.a., 98 Min. )

Irre oder Der Hahn ist tot
„Denen habe ich mein Leben anvertraut, dabei haben die mir nicht einmal in die Augen geschaut“, singt eine Bewohnerin der Freiburger Hilfsgemeinschaft in „Irre oder Der Hahn ist tot“ über ihre Psychiatrieerfahrungen. Der Dokumentarfilm begleitet einzelne Mitarbeiter*innen, Bewohner*innen und Besucher*innen der Freiburger Anlaufstelle für psychisch erkrankte Menschen. Der Alltag in der FHG ist weitestgehend selbstbestimmt. Die Mitarbeiter*innen – teilweise selbst von psychischen Erkrankungen betroffen – begegnen Besucher*innen und Bewohner*innen auf Augenhöhe. Eine Behandlung ist keine Pflicht, die Pros und Kontras von Medikation werden kontrovers diskutiert. Wie auch schon bei ihrem Dokumentarfilm „Shoah und Pin-Ups“ ist die Autorin und Regisseurin Reinhild Dettmer-Finke nah an den Menschen dran, ohne sie zu kompromittieren. Durch eine gekonnt zusammengeschnittene Mischung skurriler, tragischer und komischer Momente wird plastisch erfahrbar, wie die Gefilmten das „Phänomen psychische Erkrankung“ erleben, womit sie zu kämpfen haben und wie sie sich gegenseitig bei der Alltagsbewältigung unterstützen. Ein Film, der berührt und nachdenklich macht, weil er nicht nur zeigt, dass psychische Krankheiten jede*n treffen können. Sondern auch, wie unbeholfen unsere Gesellschaft im Umgang mit dem Thema noch immer ist. Eva-Lena Lörzer

 „Irre oder Der Hahn ist tot“ DE 2021 (Regie: Reinhild Dettmer-Finke. 78 Min., Start: 13.07. )

Piaffe
Nachdem ihre Schwester einen Nervenzusammenbruch erleidet, muss Eva notgedrungen deren Job als Geräuschemacherin übernehmen. Für einen Psychopharmaka-Werbespot mit einem Pferd in der Hauptrolle soll sie die Geräusche einspielen. Ein Auftrag, der sich schnell zu einer Obsession entwickelt. Mit Stiefeletten auf Steinen und Sand und einer Goldkette als Trense im Mund versucht Eva, die Tonsprache des Pferdes möglichst real nachzuahmen. Ihre Identifikation mit dem Tier wird so stark, dass sie eine Transformation anstößt. Ihre Bewegungen werden denen eines Pferdes ähnlich. In der Disco tanzt sie eine Piaffe, eine Übung aus der Reitkunst, bei der das Pferd auf einer Stelle trabt, und ihr wächst ein neues Organ aus dem Steißbein: ein Pferdeschweif. Von ihrer Verwandlung fasziniert und empowert beginnt sie ein intensives Verhältnis mit einem Botaniker, der Farne erforscht – ein Verführungsspiel um Sex und Macht. Ann Orens auf 16 mm gedrehter Film mutet surreal, fantastisch und kinky an. Großaufnahmen von sich windenden Farnen, atmosphärische Geräuschkulissen, die in Szene gesetzte Fotos: déjà-vu film UG Judith Kaufmann / Alamode Film, Cine Global / defi-filmproduktion / Reinhild Dettmer-Finke, Salzgeber Darstellung einer Metamorphose über Ausstattung und Kostüm: Die Performancekünstlerin und Filmemacherin erzählt mittels origineller Ästhetik und cineastischer Lust auf Bild und Ton von Evas Suche nach ihrer eigenen Ausdruckskraft und Körperlichkeit. Hanna Kopp

 „Piaffe“ DE 2022 ( Regie: Ann Oren. Mit: Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Simon(e) Jaikiriuma Paetau u.a., 86 Min. )

Valeria Is Getting Married
Christina empfängt ihre jüngere Schwester Valeria in Tel Aviv. Die Aufregung ist groß, denn Christinas Ehemann Michael hat für Valeria eine Ehe arrangiert. Christina, die der Armut in der Ukraine mit denselben Mitteln entflohen ist, zögert keine Sekunde, ihre Schwester in die Arme des Mannes zu schubsen, den Valeria bei einem gemeinsamen Essen nun offiziell kennenlernt. Valeria ist in ihrem Zögern scheinbar allein. Der Film braucht etwas Zeit, um in Fahrt zu kommen, doch diese Zeit ist nicht verschwendet. Im ersten Akt mag man beinahe die Augen verdrehen über die Art und Weise, wie sich Männer in jeden privaten Moment der zwei Schwestern hineindrängen, ob anwesend oder nicht. Die Abwesenheit von Gesprächen fernab von Heirat und Männern frustriert und unterstreicht die Realität der Frauen, die sich für eine stabile Lebenssituation ein Stück weit selbst aufgeben müssen. Michal Viniks Film zeichnet sich durch seine Feinfühligkeit aus, mit der die Geschwisterdynamik im Laufe der Handlung entflochten wird. Letztendlich sind es Christinas Pflichtgefühle – als Ehefrau, als große Schwester und sich selbst gegenüber –, die in Konflikt geraten. Ausweglosigkeit zieht sich wie ein Schleier über den Film, als dem Publikum zunehmend bewusst wird, dass jede Entscheidung einen bitteren Nachgeschmack hat. Ann Toma-Toader

 „Valeria Is Getting Married“ ISR/UKR 2022 ( Regie: Michal Vinik. Mit: Lena Fraifeld, Dasha Tvoronovich, Yaakov Zada Daniel, Avraham Shalom Levi u.a., 76 Min., Start: 25.05. )

20.000 Arten von Bienen
Als die achtjährige Hauptfigur (Sofía Otero) mit der Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) und den beiden Geschwistern aufs Land fährt, um ein paar Tage bei Oma Lita (Itziar Lazkano) und Großtante Lourdes (Ane Gabarain) zu verbringen, möchte sie schon länger nicht mehr mit dem Geburtsnamen angesprochen werden. Zu Hause ist dies, genauso wie die langen Haare, kein Problem, doch im Dorf lassen die ersten Kommentare nicht lange auf sich warten. Dazu kommen stetige Spannungen zwischen Ane und Lita, eine überraschend angekündigte Taufe und die Ungewissheit, ob der Vater überhaupt noch nachreist. Einzig bei Lourdes und den Bienenstöcken sowie im Wald findet das Kind zur Ruhe und kann sich ausprobieren. Das Spielfilmdebüt der baskischen Drehbuchautorin und Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein wunderbar stiller Film, der sich Zeit nimmt und im Gegensatz zu dem zuletzt erschienenen deutschen Film „Oskars Kleid“ den Fokus fast ausschließlich auf die Erfahrungswelt des trans Kindes legt. Dabei zeigt Solaguren zwar auch die Überforderung der Mutter und die Auseinandersetzungen der Erwachsenen untereinander, achtet aber darauf, ihnen nicht zu viel Raum zu geben. Denn am Ende zählt nicht, was sie für richtig halten, sondern, wer das Kind ist und sein will. Avan Weis

 „20.000 Arten von Bienen“ ES 2023 ( Regie: Estibaliz Urresola Solaguren. Mit: Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain, Itziar Lazkano, Sara Cózar u.a., 125 Min., Start: 29.06 )

Rodeo
Die unbehaust wirkende Julia lebt in Bordeaux und tingelt durch Gelegenheitsjobs. Ihr einziges Glück ist das Motorradfahren, und zwar schnell und ohne Helm. Mit einem Trick klaut sie immer neue Maschinen. Als sie eines Tages mit ihrem Motorrad bei einer Clique von Jungs auftaucht, die illegale Motocrossrennen fahren und Frauen nur als Deko auf dem Beifahrersitz akzeptieren, ist sie nicht willkommen. Nur einer von ihnen, Abra, ist nett, erklärt ihr den Power-Wheelie, den hier alle fahren: „Gas geben, zwei, drei, hoch geht’s. Zwei, drei, und wenn’s zu hoch ist: bremsen. Bleib cool. Und wenn du es schaffst, wirst du fliegen!“, lacht er. Doch plötzlich kommt die Polizei, alle versuchen zu fliehen. Abra verunglückt, fällt ins Koma, stirbt und erscheint Julia fortan im Schlaf. Danach nimmt sich Kaïs aus der Clique Julia an; er hat sich in sie verguckt, bekommt aber keine Chance. Durch seine Fürsprache wird sie von Domino kontaktiert, dem im Knast weilenden Cliquenchef, der sie anweist, immer teurere Motorräder zu stehlen. Julia wähnt sich endlich akzeptiert, da wird sie übel zusammengeschlagen und will sich rächen … Das preisgekrönte Spielfilmdebüt der Regisseurin Lola Quivoron ist ein raues, hartes Meisterwerk, das eine*n durch die leidenschaftliche Darstellung der Laiendarstellerin Julie Ledru als Julia, die irren Stunts und die hibbelige Musik vom Hocker haut. Barbara Schulz

 „Rodeo“ FR 2023 ( Regie: Lola Quivoron. Mit: Julie Ledru, Yannis Lafki, Antonia Buresi u.a., 105 Min., Start: 13.07. )

Before, Now & Then
In Indonesien wurden beim antikommunistischen Gegenputsch des Generals Suharto in den Jahren 1965 und 1966 bis zu drei Millionen Kommunist*innen umgebracht. Bis heute ist dieses Massaker nicht aufgearbeitet. In Kamila Andinis elegischem Film über ein Frauenleben in den 1960er-Jahren in West Java ist davon mit keinem Wort die Rede – und trotzdem lauert sein Schatten in fast jeder Einstellung. Die Hauptfigur Nana, deren Leben lose auf dem der Mutter der Produzentin des Filmes basiert, hat ihren Ehemann in den Wirren des Putsches verloren, ihr Vater wurde getötet. Sie muss mit ihrem Baby fliehen, da ihr sonst eine Zwangsverheiratung mit einem Bandenchef droht. Sie hat keinerlei Nachricht von ihrem ersten Mann, als sie Jahre später in zweiter Ehe mit einem reichen sundanesischen Landbesitzer als Mutter von vier Kindern ein scheinbar komfortables Leben führt. Doch die Erinnerung an ihre große erste Liebe sucht sie immer wieder heim – bis sie durch eine überraschende Freundinnenschaft mit der Geliebten ihres Mannes endlich die Kraft zum Ausbruch aus dem goldenen Käfig findet. Die schwelgerische, an Wong Kar-Wais „In The Mood For Love“ erinnernde Inszenierung ist bewusst trügerisch. Denn sie transportiert subkutan sowohl die Enge als auch das Grauen dieses Frauenlebens – und weist darauf hin, dass auch bis heute in Indonesien vieles nur angedeutet werden darf. Sonja Eismann

 „Before, Now & Then“ IDN 2022 ( Regie: Kamila Andini. Mit: Happy Salma, Laura Basuki, Arswendy Bening Swara u.a.)

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/23.