Missy Magazine 04/23, Comics

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Naphthalin
Es beginnt mit einer Beerdigung. Vilma, die Oma von Rocío, ist gestorben – und kaum ein Mensch kommt, auch Ro ist nicht besonders niedergeschlagen. „Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst?“, denkt die 19-jährige Argentinierin in dem Comic „Naphthalin“. Nun zieht Ro in das alte Haus ihrer Oma und hat Angst, genauso zu werden wie sie: einsam, verbittert, nachtragend. Also lässt sie Vilmas Leben Revue passieren. Ein entbehrungsreiches Leben mit einer ungewollten Schwangerschaft, die aus einer eventuellen Vergewaltigung resultierte – Großmutter und Enkelin sind sich da uneins. Die argentinische Comiczeichnerin und Autorin Sole Otero erzählt die Geschichte von Vilma und Ro anschaulich in starken, coolen Bildern. Gerade wenn Ro allein in dem Haus voller Flöhe mit ihrem eigenen Leben hadert, fühlt man mit. Eine ausdrucksvolle und lebendige Geschichte über eine junge Frau, die vermeiden will, dass Geschichte sich wiederholt. Juliane Streich

Sole Otero Naphthalin ( Aus dem Spanischen von Lea ­Hübner. Reprodukt, 336 S., 29 Euro )

Missy Magazine 04/23, Comics

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Der Frischkäse ist im 1. Stock
Von April 2021 bis Anfang 2023 zeichnete die Hamburger Comiczeichnerin Jul Gordon ihre Träume in herrlich absurden Comics mit Pinselstrichen, die von schnell gekritzelt bis zu eindrucksvollen Aquarellen reichen. Dabei dokumentiert Gordon den Irrsinn ihrer nächtlichen Gehirnaktivität genauso gut, wie sie private Ängste und Komplexe offenlegt. Das können ständige Geldsorgen sein oder ein Schamgefühl, als Gordon sich in einem Traum tänzerisch offenbart und vom Coach anschließend dafür niedergemacht wird. „Ich fühle mich bloßgestellt, weil ich zwischendurch ernsthaft versucht hatte, meine Gefühle zu tanzen“, wähnt die Protagonistin, die zuvor mit lang gezogenen Gliedern über die blau gefärbten Seiten tänzelte. Auch politische Diskurse wie die Antisemitismusdebatte rund um die documenta oder das Verfahren gegen Expolizist Derek Chauvin, der George Floyd tötete, haben Gordon beschäftigt. Knapp eine Woche nach der Urteilsverkündung träumte sie, dass ein fürsorglicher Supermarktleiter vom locker gezeichneten Brillenträger zu Floyds Anwalt Jerry Blackwell wird. Lorina Speder

Jul Gordon „Der Frischkäse ist im 1. Stock – gezeichnete Träume“ ( Edition Moderne, 256 S., 25 Euro )

 

Missy Magazine 04/23, Comics

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Der Zeitraum
Es ist der uralte feministische Traum vom Raum für sich. In Lisa Frühbeis’ Comic betritt die Protagonistin ihn durch eine Pforte, die verdächtig nach einer Vulva aussieht. Im Inneren wird es pink, bunt, warm, die Zeit bleibt stehen, alles fühlt sich nach Freiheit an – während draußen, außerhalb des „Zeitraums“, die Welt sich schwarz-weiß, mit scharfen Ecken und Kanten präsentiert. Und vor allem voller Verpflichtungen und Stress, Kindern, die betreut und verpflegt werden wollen, Deadlines, die eingehalten werden müssen, Miete, die bezahlt werden soll. Die (Anti-)Heldin von Lisa Frühbeis’ zweiter Graphic Novel ist eine alleinerziehende Mutter, die sich mit ihrer Teenagerin und dem Kleinkind auf eine karge Insel in das Tiny House ihres Onkels zurückzieht, um dort unter Zeitdruck eine wichtige Komposition für einen Musikwettbewerb fertigzustellen. Frühbeis zeigt mit teils nüchtern realistischen, teils surreal farbenfrohen Bildern, wie sehr sich heute Mütter immer noch zerreißen müssen, um allen Ansprüchen gerecht zu werden, oder: immer besser zu scheitern. Und, kleiner Spoiler: Das Zerreißen ist hier nicht ausschließlich sprichwörtlich gemeint. Sonja Eismann

Lisa Frühbeis „Der Zeitraum“ ( Carlsen, 144 S., 18 Euro )               

Missy Magazine 04/23, Comics

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Meine geniale Freundin
Der Freundinnenschaft von Elena und Lila, um die sich Elena Ferrantes weltberühmte neapolitanische Saga dreht, widmet sich nun eine Graphic Novel. Die Dramatikerin Chiara Lagani versucht sich daran, den dicken ersten Teil der Saga auf die Freundinnenschaft der beiden Mädchen im Neapel der 1950er-Jahre herunterzubrechen, doch der Kontext leidet darunter. Ferrantes Milieustudie verschwindet, und auch die poetische Bildsprache der Illustratorin Mara Cerri kann dies nicht auffangen. Aber es gelingt ihr, eine eigene Atmosphäre und Charakterzeichnungen zu transportieren: verwaschene Grau- und Brauntöne für die Welt des Viertels, in dem die Freundinnen aufwachsen, sattes blendendes Blau und Gelb, wenn sie endlich ans Meer kommen. Den gezeichneten Gesichtern der beiden verleiht sie eine ganz eigene Mimik und Ausdruckskraft. Damit schafft es die Graphic Novel, die ihr eigenen Gestaltungsmöglichkeiten auszuschöpfen, sie setzt sich so als eigenes Werk von den Romanen und auch der HBO-Serie ab. Holle Barbara Zoz

Elena Ferrante, Chiara Lagani & Mara Cerri „Meine geniale Freundin“ ( Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Carlsen Comics, 256 S., 26 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/23.