Mit lesbischen Grüßen von Felicia Ewert

Felicia Ewert schreibt über verschiedene Themen aus queerfeministischer, lesbischer Perspektive, die sie oft mit internationalen Ereignissen verknüpft, um den Blick zu erweitern. Gleichzeitig schreibt they autobiografisch, persönlich, emotional, um einen direkten Bezug für Außenstehende herzustellen.

Illustration: © Viki Mladenovski

Es war im Herbst 2015. Ich fuhr an einem Nachmittag überraschend zu meinen Eltern. Nicht überraschend für mich, sondern für sie beide. Ich musste ihnen etwas mitteilen, was mir seit geraumer Zeit auf der Seele lag und was einen heftigen Impact nach sich ziehen würde. „Wie kommt das denn, dass du heute hier bist?“, fragte Mama. „Wurde auch langsam mal wieder Zeit, Kind!“, polterte Papa. „Kind.“ So sagte er oft. Egal, ob ich fünf Jahre alt, 18 oder wie damals gerade 29 Jahre alt war. Ich sammelte mich lange Zeit und tat so, als wäre ich ohne besondere Gründe zu Besuch. Ich ging ins Wohnzimmer, wo meine Eltern saßen. Setzte mich direkt vor beide. Vier verdutzte und erwartungsvolle Augen schauten mich an. Wenige Sekunden Stille, doch erschienen sie unendlich lang in diesem Moment.

„Ich …“

Felicia Ewert

Felicia Ewert ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Geschlechterforschung, (Co-)Autorin der Bücher „Trans. Frau. Sein. - Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung und „Feminism is for everyone - Argumente für eine gleichberechtigte Gesellschaft“. Sie ist Podcasterin („Unter anderen Umständen“) und gerne wieder auf Vorträgen als Reiselesbe und politische Referentin unterwegs. They spricht zu den Themen Transfeindlichkeit, Transmisogynie, Homofeindlichkeit und Sexismus.

Pause.

„Ich habe euch etwas mitzuteilen.“

Eine lange Pause und das tiefste Einatmen meines Lebens bis dato folgten.

„Ich, ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Am besten vorne.“ Stolperten meine Worte vor sich hin.

Ein letztes bewusstes Einatmen und Absprung.

„Ich bin kein Mann.“

Paukenschlag.

Keine Entgegnung meiner Eltern bis dahin. Also redete ich weiter: „Ich … Ich weiß, wie ich aussehe, ich weiß, welchen Namen ihr mir gegeben habt …“, in dem Moment liefen mir bereits die Tränen übers Gesicht, „aber ich fühle etwas in mir, das ausgesprochen werden muss, das ich nicht länger verbergen möchte.“ Ich erzählte ihnen, wie ich im Alltag auftrete, wie ich mich kleide, was mein tatsächlicher Name ist und dass mir das hier alles andere als leichtfällt. Ich sagte ihnen, dass ich ihnen das mitteilte, weil ich sie sehr lieb hätte und ihnen beiden vertraute. Ich blickte auf und schaute in die Gesichter meiner Eltern. Beide waren nun auch tränenüberströmt.

„Das kann dir nicht leicht gefallen sein“, sagte Papa, öffnete seine Arme und schloss sie um mich, nachdem ich auf ihn zuging.

Noch mehr Tränen liefen uns beiden über die Gesichter. Er lächelte mich an.

„Komm bitte zu mir“, sagte Mama und auch sie schloss mich fest in ihre Arme. „Ich bin stolz auf dich!“, flüsterte sie mir zu.

Mein Vater blickte meine Mutter an und sagte mit gespielter Empörung: „Du hast das doch sicherlich schon wieder vorher gewusst!“

Wir lächelten uns alle etwas verlegen an, denn ganz unrecht hatte er nicht. Tatsächlich erzählte ich es Mama schon einige Monate zuvor. An einem Wochenende im Frühjahr saß ich noch bis spät in die Nacht mit Mama und viel Rotwein auf dem Sofa, als ich mich traute, von mir zu erzählen. „Wir müssen dann, glaube ich, etwas Theater spielen für Papa“, sagte sie konspirativ zu mir. Ich sagte: „Das machen wir, sobald ich mich dazu bereit fühle.“ Wir gingen schlafen, zuvor nahm sie mich fest in den Arm und sagte: „Schlaf gut … meine Tochter.“ Ich habe zeitlebens über alles mit Mama gesprochen und sprechen können, aber das hier fiel mir nicht leicht. Auf Twitter schrieb ich damals: „Kann mich bitte jemand schubsen, ich versuche hier gerade ein Outing hinzubekommen.“ Es fiel mir so schwer, dass ich ihr ein knappes Jahr zuvor meine Geschichte erzählte, jedoch ohne zu erwähnen, dass es dabei um mich ging. Absurde Outing-Geschichten prägen eben die Lebensläufe queerer Menschen. Absurd im günstigen Fall, denn was ich hier tat, bleibt vielen meiner Geschwister verwehrt. Sie verstellen sich, verheimlichen sich selbst oder leben ihre Leben im Stealth-Modus. Bspw. während oder nach geschlechtlichen Transitionen, ohne jemals über ihre Transgeschlechtlichkeit zu sprechen, ja sprechen zu können, weil sie (erneute) queerfeindliche Gewalt befürchten müssen. Da saß ich nun im Herbst 2015 zwischen meinen Eltern und ein großer Schritt war getan. Papa schaute mich an mit einem herzzerreißenden Blick der Wärme, Unterstützung, aber auch gefüllt von Überforderung. „Ich verstehe nicht mehr alles und ich werde sicherlich ganz, ganz viel falsch machen, aber woran es keinen Zweifel gibt, ist, dass du immer mein Kind bist. Egal, was passiert. Egal, was sein wird.“ Falls ihr dachtet, das sei das Happy End, muss ich euch leider enttäuschen, denn es kam zu vielen Situationen, die nicht sonderlich happy waren, sondern sehr anstrengend. Viel schlucken, ignorieren und einfach wegstecken war bei mir mitunter angesagt. Denn auf die anfängliche Unterstützung folgte auch viel Abwehr, wenn er mich beim falschen Namen nannte, wenn sich Papa wieder mit „er“ auf mich bezog. Egal, wie weh es mir tat, ich wusste immer, dass es im Kern keine Böswilligkeit von seiner Seite war. Er brauchte lange und seine gelegentliche Abwehrhaltung wenn ich ihn korrigierte, waren für ihn, aus seiner Perspektive, Stöße vor den Kopf. Exakt so wie es auch andere Menschen, gleich welchen Backgrounds und Alters, empfinden. Sie fühlen sich ertappt und bloßgestellt, obwohl es hier doch gerade gar nicht um sie selbst, sondern um die Menschen geht, die sich ihnen anvertrauten, die deren Schutz und Unterstützung suchen. Genauso wie auch ich mich oftmals vor den Kopf gestoßen fühlte, wenn mich Menschen auf verletzendes Verhalten hingewiesen haben. Drüberstehen, dankbar sein, dass sich Menschen uns anvertraut haben und sich dabei massiv verletzlich machen. Das ist Solidarität.

Wer ist hier eigentlich tatsächlich „überempfindlich“? Marginalisierte Menschen oder diejenigen, die auf Fehler hingewiesen werden? Ich lasse die Frage mal offen. Du wirst dein transgeschlechtliches, nicht binäres, queeres Kind, gleich welchen Alters verlieren. Aber nicht, weil es queer ist, sondern weil du möglicherweise hinreichend gezeigt hast, dass du keine Anerkennung und keinen Schutz bietest, sondern nur eine zusätzliche Gefahr innerhalb dieser durch und durch patriarchalen, misogynen, queerfeindlichen Gesellschaft bist. Glückwunsch an dein Ego. Du bist ein Arschloch. Es verging viel Zeit und ich weiß, wie viel Selbstüberwindung es Papa kostete, als er mich während meiner Hochzeit vor Dutzenden Gäst*innen „meine Tochter Felicia“ nannte. Aber er tat es und zeigte in diesem öffentlichen Moment, dass ich ihm wichtiger war als sein Ego, seine Gewohnheiten, seine Sturheit, sich weiterzuentwickeln. Nun lagst du da im Frühjahr im Krankenbett. Nicht mehr ansprechbar und dem Ende nah. Ich war allein mit dir im Raum und nahm deine Hand. Endlose Stille, die Geräusche der Geräte verschwanden um mich herum. Ich wusste, was ich dir noch sagen wollte: „Ich habe dir sehr viel Kummer und Sorge bereitet, Papa, genauso viel, wie du mir manchmal. Ich weiß, dass dir vieles nicht leichtgefallen ist, du Fehler gemacht hast, die mir sehr wehtaten. Aber ich weiß, dass du alles getan hast, um zu verstehen – auch, wenn es länger gedauert hat. Es war nicht immer leicht mit uns beiden, aber ich werde für immer wissen, was ich an dir hatte.“ Du starbst an einem Wochenende und ich würde vieles dafür geben, dich noch einmal umarmen zu können.

Nach langen Prozessen gab es für ihn keine Zweifel daran, dass ich seine Tochter bin, und auch die Momente, in denen er mich als Mami meines Kindes bezeichnete, zeigten mir, dass Menschen sich weiterentwickeln können. Auch wenn es nicht die Aufgabe marginalisierter Personen ist, den Schmerz aus- und an potenziell gewaltvollen Menschen festzuhalten. Ich wünsche mir diese Unterstützung für all meine Geschwister. Diese Unterstützung, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Wir brauchen euch, ihr Eltern, Verwandte, Kolleg*innen, Freund*innen, denn die Zukunft wird düsterer und bedrohlicher, in Zeiten, wenn queere Menschen mehr und mehr nicht „lediglich“ als „falsch und unnatürlich“ bezeichnet, sondern aktiv zur „Bedrohung“ per Existenz verklärt werden. Liebe queere Geschwister: Sie machen nicht vor euch halt, völlig egal, wie „angepasst“ ihr euch gebt. Oder wie oft wir zu uns selbst sagen, dass wir „nur etwas stiller, dankbarer und zurückhaltender“ sein müssten, um „respektiert“ zu werden.

Ich denke an dich, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, Papa.

In Liebe, manchmal Wut und Dankbarkeit, deine Tochter Felicia

Mit lesbischen Grüßen