Seid befreit
Mo, 1976 geboren, wächst an der Berliner Mauer im Pankower Sperrgebiet auf. Was hinter der Mauer liegt, kann Mo sich nur in der Fantasie ausmalen. Doch dann fällt sie und Mo wird zum Teenager: Die Menschen strömen in den grellbunten Westen, wo die Waren aus den Läden quillen, und in Mos Unterhose findet sich Blut. Aus dem morgendlichen Pioniergruß „Seid bereit“ wird die Aufforderung, mit der so berauschenden wie erdrückenden neuen Freiheit im Kapitalismus umzugehen. Die Illustratorin, Graffitikünstlerin und Pädagogin Sandra Rummler erzählt in ihrem autofiktionalen Graphic-Novel-Debüt eine Coming-of-Age-Geschichte aus den Ruinen des real existierenden Sozialismus, in der bleierne Schwere und ekstatische Ausbrüche nah beieinanderliegen: Überwachung und Solidarität, Raves und Neonazis, „Ossi“-Beschimpfungen und lesbische Lovestory. Die detailreich gezeichneten Stadtansichten spielen neben den wie darübergelegt wirkenden, poppig bunten Protagonist*innen die Hauptrolle. Rummlers Reise in ein verschwundenes Geburtsland ist weder Abrechnung noch „Ostalgie“, sondern eine berührende, im Privaten stets politische Meditation über Verlust und Neubeginn. Sonja Eismann

Sandra Rummler „Seid befreit“ ( Avant, 264 S., 29 Euro )

Roaming
Die dritte Graphic Novel der schon mehrfach für ihre Zusammenarbeit ausgezeichneten Cousinen Jillian und Mariko Tamaki erzählt von fünf Tagen in New York, wo sich die Freundinnen Danielle und Zoe für einen Kurztrip wiedertreffen. Kunststudentin Danielle hat ihre Kommilitonin Fiona im Schlepptau, was die Dynamik verändert. Zoe entwickelt Gefühle für Fiona, die sich selbstbewusst durch den Big Apple bewegt, während die brave Danielle mit vorgeschnalltem Rucksack Sehenswürdigkeiten abklappert. Jillian Tamaki schafft mit ihrem schwungvollen Strich einen visuellen Erzählflow. Der Blick wird von den klaren Outlines über die abwechslungsreich komponierten Seiten geführt. Die Zurückhaltung in der Kolorierung steht im Kontrast zum Tempo. Der Band kommt neben sattem Schwarz einzig mit den Pastelltönen Blassorange und Fliederfarben aus. Rasant geht es durch die Stadt: Häuserschluchten, Museen, öffentliche Verkehrsmittel und Rolltreppen. „Roaming“ ist ein mitreißender Comic, der subtil Fragen über Queerness und Freundinnenschaft verhandelt. Amelie Persson

Jillian Tamaki & Mariko Tamaki „Roaming“ ( Aus dem Englischen von Matthias Wieland. Reprodukt, 448 S., 29 Euro )