Ein junger Mensch in der Zukunft liest einen Brief mit der Aufschrift „von Mami“ durch. Im Hintergrund sind Wolken und Sterne zu sehen. Über der Abbildung steht: „Was ich tun konnte, war es, dich nicht in eine von zwei Schubladen zu drängen und dir Vorschriften zu machen.“
Missy-Kolumnist*in Felicia Ewert hinterlässt einen Brief an ihr Kind in der Zukunft.

Mein liebes Kind,

ich habe in den vergangenen zehn Jahren versucht, Aufklärung über queeres Leben zu machen. Dass ich dies machen musste, zeigte leider, wie bitter notwendig diese Arbeit war, und ich befürchte immer noch ist und immer sein wird. Im Herbst 2023 blickte ich auf die kommenden zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl 2025. Die AfD stand zu diesem Zeitpunkt in den Umfragen bei 22 Prozent. Jede fünfte, fast jede vierte wahlberechtigte Person zeigte hiermit die Zustimmung zu einer faschistischen Partei. „Nur aus Protest!“, lauteten verharmlosende Statements hierzu. Nicht von den Anhänger*innen der Partei. Oh nein. Diese relativierenden Einstufungen kamen von deutschen Redaktionen und Parteien. „Weil die Welt so kompliziert geworden ist!“, „Weil die Leute armutsgefährdet sind“,  „Weil plötzlich überall Gendersternchen zu sehen sind“. Wir erinnern uns, als die NSDAP damals aus Protest zur stärksten Partei gewählt wurde, weil die SPD 1933 Gendersternchen einführen wollte. Ja, viele wissen das gar nicht mehr.

Die damals vorherrschende „Cancel Culture“, die von Leuten in fünf Talkshoweinladungen, drei Titelstories und zwei Kolumnen öffentlich und berechtigt, wie ich sagen möchte, angeprangert wurde, weil man ja nichts mehr sagen dürfte, war gewiss ein großes Problem dieser Zeit. Thoughts and prayers an dieser Stelle von mir. Angeblich auch „die gefährlichen trans Personen“, die wahlweise als irrelevante Minderheit geframed oder aber am Ende eines aufhetzenden Statements als schier endlose Masse dargestellt wurden, die praktisch hinter jeder Ecke lauerten, um cisgeschlechtliche Menschen zu bedrohen. Ganz ehrlich, da weiß ich morgens gar nicht, was ich am Ende des Tages zu sein habe. Dann gab es noch „Die armen Kinder!“, die „frühsexualisiert“ wurden. Dieselben Kinder, denen man schon vor ihrer Geburt ein Geschlecht, normierte Farben, potenzielle Interessen, Berufswünsche, körperliche Leistungsfähigkeiten unterstellte und aufdrängte, nachdem auf einem Ultraschallbild die Form und Beschaffenheit ihrer Intimorgane gesichtet wurde. Ganz normaler Alltag im Cistem.

Mit dem so bezeichneten Selbstbestimmungsgesetz, das in Gänze „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“ hieß, wurden nun „vielschichtige Ängste“ (queerfeindliche Hetze Anm. der Chronistin) öffentlich formuliert. Unter anderem wurde gemutmaßt, dass Geschlecht nun zu einem reinen Sprechakt „verkommen“ würde. Der Begriff „Sprechakt“ ist hierbei lediglich eine akademisierte Begriffshülse, die Wortgewandtheit vorgibt und große gesellschaftliche Konsequenzen unterstellen soll. Hiermit soll die potenzielle Situation, in der Menschen beim Standesamt selbstständig und ohne Begutachtung eine Korrektur ihrer Namen und ihres Geschlechtseintrags durchführen lassen können, dramatisiert und zu einer missbräuchlichen Handlung verklärt werden.

Und diese Sorge könnte kaum interessanter sein, denn: Der Sprechakt, der bei einer Geburt vollzogen wird, um das vermeintliche Geschlecht des Kindes rechtswirksam zu formulieren, ist offenkundig völlig okay, sofern dieser Sprechakt fremdbestimmt gegenüber einer Person ausgesprochen wird, die sich nicht einmal wehren kann. Exakt so wie es bei deiner Geburt verlief, mein Kind. Exakt so wie es 1986 bei meiner Geburt verlief. Gegen diese geschlechtliche Zuweisung hätte ich damals nichts unternehmen können. Ob ich es tatsächlich gewollte hätte? Vielleicht schon. Doch würde dies in einer streng binären Welt ebenso große Gefahren bedeuten. Was ich aber tun konnte, war, dir mit möglichst großer Offenheit zu begegnen. Dich nicht in eine von zwei Schubladen zu drängen und dir Vorschriften zu machen, welches Geschlecht „korrekterweise“ welche Kleidung zu tragen, welches Spielzeug zu benutzen und welche Cartoons zu schauen hat. Farben haben kein Geschlecht, Spielzeug hat kein Geschlecht, Kleidung hat kein Geschlecht.

Felicia Ewert

Felicia Ewert ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Geschlechterforschung, (Co-)Autorin der Bücher „Trans. Frau. Sein. - Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung und „Feminism is for everyone - Argumente für eine gleichberechtigte Gesellschaft“. Sie ist Podcasterin („Unter anderen Umständen“) und gerne wieder auf Vorträgen als Reiselesbe und politische Referentin unterwegs. They spricht zu den Themen Transfeindlichkeit, Transmisogynie, Homofeindlichkeit und Sexismus.

Fun fact: Nicht einmal Menschen haben per default ein Geschlecht.

Was wir haben, sind Körper, Chromosomen, Hormone, Organe, potenzielle Körperfunktionen, die mit Masse in „weiblich“ oder „männlich“ einsortiert werden. Einfach aufgrund einer statistischen Häufigkeit. In Deutschland nennen wir das liebevoll: „Dit ham wa aber schon immer so jemacht!“

Mein Kind, wann immer du hören und lesen wirst, dass „Rechte nicht für ihre diskriminierenden Einstellungen verantwortlich“ seien, lass dir nichts von ihnen einreden. Egal, wie oft sie selbst, Politiker*innen oder deutsche Journalist*innen die Verharmlosung der „frustrierten Menschen, die besorgt und wütend sind“ erzählen: Nazis machen keine Werbung mit höheren Löhnen, mehr Freizeit, nicht mit günstigen Mieten. Sie machen Werbung mit Rassismus, mit Antisemitismus, Ableismus, Misogynie, Queerfeindlichkeit, mit blanker Menschenverachtung, mit dem Schüren von Ängsten und mit Aufhetzung. Und exakt dafür werden sie gewählt. Während die sogenannte Mitte konstant beschwichtigt und verharmlost. Marginalisierte Menschen sind frustriert, verängstigt, besorgt, arm, traumatisiert und dennoch kamen historisch gesehen nur sehr wenige auf die Idee, Naziparteien zu wählen. Überraschung.

Der Weg nach 2025 war der Weg zum Faschismus und wir hatten alle Mittel, um ihn vom Angesicht dieser Erde zu tilgen. Aber wir klammerten uns an Nationen, Regionen, lokalen Patriotismus und hätten im Zweifel auch den hinterletzten Lohndumping-Betrieb gegen imaginäre Gegner*innen „von außen“ mit unserem Leben verteidigt. Während wir uns zwischen Miete zahlen, heizen oder Lebensmittel einkaufen „individuell entscheiden“ durften. Ganz im liberalen, marktwirtschaftlichen Sinn. Hach, süße Freiheit!

Denn für alle Missstände im Kapitalismus fanden wir Schuldige. Die zwar nichts für die kapitalistischen Mechanismen, Miss- und Umstände und den Kapitalismus an sich konnten, aber uns war das egal. Denn nach Menschen zu treten, die uns jahrzehnte-, jahrhundertelange rassistische Ausbeutung, Versklavung und Ermordung zu verdanken hatten, wurde legitimiert durch die so bezeichneten „deutschen Werte“, die es zu verteidigen galt. Die antisemitischen Narrative eines „großes Austauschs“, einer „Weltverschwörung“ waren „deutsche Werte“, die es zu verteidigen galt. Egal, was für fadenscheinige Lippenbekenntnisse aus Deutschland zur „Bekämpfung von Antisemitismus“ vorgebracht wurden. „Unsere Kinder“ gegen „die Queerlobby“ zu verteidigen, war ein „deutscher Wert“, egal, wie viele Regenbogenflaggen wir an unsere Rathäuser und Parlamente gehängt haben. Egal, wie sehr wir jede queerfeindiche Tat öffentlichkeitswirksam „verurteilten“, während wir weiterhin queere Menschen bei der Anerkennung ihrer Geschlechter bzw. Geschlechtslosigkeit oder bspw. bei Adoptionsverfahren diskriminierten.

Misogynie war ein „deutscher Wert“, egal, mit wie viel „Abscheu“ wir jedes Jahr auf die Zahlen der Femizide blickten und gleichzeitig Frauenhäuser unterfinanziert im Regen stehen ließen und Präventionsarbeit finanziell verunmöglichten. Denn jegliche gesellschaftliche Gewaltform, die bestand, war schließlich „kein deutsches Problem“, sondern lediglich „aus dem Ausland importiert“ oder hatte „in Deutschland keinen Platz“. Und dass solche Behauptungen im Nachfolgestaat des Nationalsozialismus ungestraft in der Öffentlichkeit ausgesprochen werden konnten, zeigte, wie weit nach rechts wir ausgeschert hatten.

Mein Kind, unser absolutes gesellschaftliches Versagen und unsere Ignoranz tun mir leid. Im Einzelnen taten wir, was wir konnten, aber der Kampf und das Durchhalten, das Aufhalten, das Aushalten einzelner Menschen war nicht ausreichend. Ich wünsche mir eine Zukunft, in der wir nicht bereits Kinder aufgrund dessen, was sich, möglicherweise, zwischen ihren Beinen befindet, in Rollen, Erwartungen, Hierarchien, Ausbeutung, Gewalt und in den Tod drängen. Ich wünsche mir eine Zukunft, in der dies keinem Menschen mehr zugemutet und angetan wird. Ich wünsche mir eine Zukunft. Ich wünsche dir eine Zukunft. Ich wünsche uns eine Zukunft.

Vielleicht war alles nur eine Dystopie. Ich hoffe es sehr, und solange ich kann, werde ich dafür kämpfen, dass alles nur eine potenzielle Dystopie war.

Ich werde dich mit meinem Leben verteidigen, solange ich kann.

In Liebe

Mami

Mit lesbischen Grüßen