Von Josephine Apraku

Sonntag, 29. Juli 2018
Ich weiß leider nicht mehr, wo ich es gelesen habe, aber besonders in diesen Tagen klingt es in mir nach: Das, was wir unser Selbst nennen, ist eine Sammlung von Erinnerungen – unser Sein die Anwesenheit unserer Vorfahr*innen im Jetzt. Warsan Shire schreibt dazu in unendlicher Schönheit: „I have my mother’s mouth and my father’s eyes; on my face they are still together.“

Ich sitze im Garten meiner Oma in Düsseldorf. Sie liegt seit einigen Tagen im Sterben. Ein Prozess, wie ich mit ihr lerne, der so selbstbestimmt ist wie ihr eigenes Leben. Ich bin froh, dass ich hier sein kann, denn wie sonst soll es mein einfaches menschliches Gehirn begreifen, dass sie bald nicht mehr da ist.

© Tine Fetz

In diesem Jahr, in diesen Tagen schwanger zu sein lässt mich darüber nachdenken, welche Teile von Oma Siggi und Sampson, meinem Opa aus Ghana, den ich nie so richtig kennengelernt habe, in mir nachhallen. Was haben sie an mich weitergegeben? Was werde ich an den Menschen, den ich selbst gemacht habe und den ich völlig neu kennenlernen werde, weitergeben?

Montag, 30. Juli 2018
Sie täglich im Hospiz begleiten zu dürfen bereitet mir Frieden – ruhige Momente sind das: Ich höre ihren Atem, der mal regelmäßig ist, mal stockt. Ab und zu schlägt sie die Augen auf und lächelt meine jüngere Schwester und mich an, schließt ihre Augen wieder und schläft ein wenig tiefer ein als zuvor. Während wir an ihrem Bett sitzen, werden meine Schwester und ich – ich arbeite, sie liest – von der Erkenntnis begleitet, dass Harmonie darin besteht, dass wir einen Teil unseres alltäglichen Lebens an ihrem Sterbebett verbringen können.

Früher in diesem Jahr ist mein Opa in Ghana gestorben. Die Trauer, die mich erfüllt hat, war mir fremd, wie er selbst. Ein seltsames Gefühl: Obwohl er so bedeutsam für mein alltägliches Leben als Schwarze Deutsche ist, erinnere ich mich nur an eine Begegnung mit ihm in Ghana, als ich noch sehr klein war. Neben all den Kämpfen, die ich mit der Resilienz bestreite, die auch er an mich weitergegeben hat, bleibt mir von ihm ein kleines Kästchen mit ghanaischem Goldschmuck.

Mittwoch, 01. August 2018
Oma Siggi ist heute am frühen Abend gestorben. Nachdem sie in den letzten beiden Tagen keinen Besuch mehr haben wollte – das hat sie sehr klar artikuliert –, waren meine Schwester und ich am Vormittag noch mal bei ihr. Wir lassen sie wissen, dass wir sie lieb haben, wir ihren Wunsch, allein zu sein, respektieren und nach Hause fahren. Sie lächelt uns an, lässt uns wissen, dass es ihr an nichts fehlt, und schließt einmal mehr die Augen.

Sonntag, 05. August 2018
Weil ich nicht mit meinem Vater aufgewachsen bin, weiß ich über meinen Opa wenig. Meine Tante erzählt, dass er in der Partei des ehemaligen Präsidenten Ghanas, J.J. Rawlings, politisch tätig war und an der Verfassung von 1992 mitgeschrieben hat. Darüber, wie er knapp zwei Jahrzehnte britischer Kolonialherrschaft erlebt hat, weiß ich nichts. Darüber, was ihm in seinem Leben wichtig war, weiß ich ebenso wenig.

Meine Oma wird vor dem Zweiten Weltkrieg geboren. Im Krieg hatte sie, weil sie in der Dunkelheit so gut hatte sehen können, zum Bunker vorauslaufen müssen, um den anderen den Weg zu weisen. Wie viele andere wird sie während dieser Jahre regelmäßig „verschickt“. Kürzere oder längere Reisen sind das, die sie als Kind als Abenteuer wahrnimmt. An einem Vormittag, sie trinkt eine Tasse Kaffee, als sie mir davon erzählt, zeigt sie mir die wenigen Bilder, die sie aus dieser Zeit besitzt.

Die Kriegserfahrung, Nächte im Bunker, während Bomben in die Häuser ihrer Wohngegend in Düsseldorf Unterrath einschlagen, machen meine Oma in ihren späteren Lebensjahren nicht weniger lebensfroh. Die Art, wie sie als Frau dieser Zeit mit all ihren Herausforderungen lebt, ist eine Liebeserklärung ans Leben: Sie liebt meinen Opa, dessen Name mein erster Vorname ist, feiert rauschende Feste, auf denen mitunter – nicht nur mein Opa – geknutscht wird, und bereist voller Neugier mit Freund*innen die Welt.

Meine Mama erzählt über Oma Siggi, ihre Mutter, dass sie, seit sie sich erinnern kann, immer Auto gefahren ist. In den 1960er- und 1970er-Jahren ist das keineswegs normal. Eigentlich, sagt sie, sind in den Familien ihrer Freund*innen immer die Väter gefahren. Bis in ihre späten Jahre fährt Oma Siggi auf der Autobahn konsequent auf der linken Spur und drängelt andere aus dem Weg.

Vieles von dem, was mich ausmacht, mein selbstbestimmtes Schwarz-Sein, meine feministische Haltung, sind Vermächtnisse von meiner resoluten lebensliebenden Oma* und meines Opas, Sampson.

Die Ältesten meiner Familie sind Menschen, die ihre Kindheit während des Zweiten Weltkriegs in Bunkern verbracht, die Kolonialzeit und den Tag der Unabhängigkeit in Ghana erlebt haben. Menschen, die voll des Lebenswillens waren und nach ihren Möglichkeiten ihr Leben gestaltet haben. Das alles sind Dinge, die sie an meine Eltern, an mich weitergeben und die ich nun weitergebe.

Freitag, 10. August 2018
Auf ihrem frischen Grab fliegen Bienen um die Kränze und bestäuben die üppigen Blüten. Ein- und Austritt aus dem Leben sind, wie ich mit dem Sterbeprozess meiner Oma lerne, gar nicht so verschieden: Ihr Tod ist ein bisschen wie eine Geburt rückwärts. Als sie Ende Juli im Sterben liegt, schaltet sich ihr Körper wie ein Kraftwerk nach und nach ab – ihr Vermächtnis bleibt, auch in meinem Kind.

* Passend zum Wesen meiner Oma ist sogar ihre Traueranzeige fröhlich, so fröhlich, dass sie von einigen Magazinen aufgegriffen wird, etwa hier, hier und hier.