class, mate von Franziska Heinisch

Es gibt diese Ereignisse, die sofort einschlagen. Bei denen wir in dem Moment, in dem sie geschehen, sofort wissen: Sie werden uns im Gedächtnis bleiben, sich einprägen, sich regelrecht in unsere Erinnerungen fräsen. Da ist das flaue Gefühl in der Magengrube, während wir immer wieder den Startbildschirm aktualisieren in der Hoffnung, die Schlagzeilen mögen sich doch ändern, gefolgt von der Feststellung, dass das nichts bringt. Der Blick in die Leere, der Gedanke: Warum die Ungläubigkeit, ich wusste es doch besser?, der ebenfalls nichts besser macht. Dazu plötzliche Kälte, vorgestellt oder real, seltsame Einsamkeit. Und die Gewissheit: Das ist jetzt schlimm, wirklich schlimm.

Ende Juni, genau genommen am 24. Juni: An demselben Tag, an dem sich die Ampelregierung in Deutschland dafür feiert, den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs abzuschaffen (ein Schritt, der an diesem Tag seltsam erleichternd war, aber eigentlich maximal ein Zwischenschritt ist, wie ich für das „Jacobin Magazin“ geschrieben habe), kippt der Supreme Court einen der Meilensteine in Sachen Selbstbestimmung in den USA. Er deklarierte die 49 Jahre alte Entscheidung im Fall „Roe vs. Wade“ zum Fehlurteil – und kippte damit die wichtige Grundsatzentscheidung, dass der Schwangerschaftsabbruch ein fundamentales Recht gebärfähiger Menschen ist.

1920 schon legalisierte die Sowjetunion den kostenlosen Schwangerschaftsabbruch. In der DDR war es Schwangeren ab 1972 erlaubt, bis zur zwölften Woche abzutreiben. Ab 1973 waren durch „Roe vs. Wade“ Abtreibungen auch in den USA bundesweit erlaubt. Das bedeutete für ungewollt Schwangere einen leichteren und ungefährlicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichtshofs kehrt diese Entscheidung um. Der Supreme Court entschied Ende Juni, es gebe kein Recht auf Abtreibung. Folglich fällt die Entscheidung, ob und unter welchen Bedingungen Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden dürfen, in die Hände der Bundesstaaten. Das hat verheerende Folge für ungewollt Schwangere.

Franziska Heinisch

Franziska Heinisch, geboren 1999, ist in Hagen am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen. Als sie noch dort lebte, wollte sie Profifußballerin werden. Jetzt ist sie Autorin und Aktivistin an der Schnittstelle zwischen Klima- und Arbeitskämpfen. Sie hat die Organisation Justice is Global Europe mitgegründet. Diese will mit Methoden des transformativen Organizings stärkere Allianzen zwischen der Klimabewegung und den Beschäftigten in fossilen Industrien aufbauen. Franziska schreibt über Klimakrise, Kapitalismus, Arbeitskämpfe und Feminismus - immer mit sozialistischem Ausblick. 2021 erschien ihr Buch „Wir haben keine Wahl. Ein Manifest gegen das Aufgeben". Sie lebt in Berlin.
Franziska Heinisch Kolumne
© Rahel Süßkind

Urteil mit verheerenden Folgen

Denn in zahlreichen konservativ regierten Bundesstaaten wurden bereits sogenannte Trigger Laws beschlossen. Das sind Gesetze, die unter der aktuellen Rechtslage nicht durchsetzbar sind, aber bei entscheidender Änderung der rechtlichen Umstände in Kraft treten. Dieser Fall ist in der Frage des Rechts auf Abtreibung jetzt eingetreten – mit der Folge, dass innerhalb kürzester Zeit in den USA einige der restriktivsten Gesetze zu Abtreibungen in der jüngeren Vergangenheit gelten werden, z. B. in Form des Verbots aller Abtreibungen, sogar nach Inzest oder Vergewaltigungen. Viel besprochen wurde zuletzt der Fall eines zehnjährigen Mädchens aus Ohio, das infolge einer Vergewaltigung schwanger geworden war und dem infolge der neuen Rechtslage eine Abtreibung verwehrt wurde. Sie konnte diese im Nachbarstaat Indiana noch vornehmen lassen. Doch auch dort könnte Ende Juli das Gesetz durch eine republikanische Mehrheit verschärft werden.

Die Argumentation des Supreme Court ebnet zudem den Weg zu weiteren reaktionären Angriffen, z. B. in Bezug auf Entscheidungen zur Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare, zur Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichem Sex oder zum Zugang zu Verhütung. Das Urteil ist somit einer der größten Rückschritte in feministischen Kämpfen. Es ist erschütternd. Es ist potenziell lebensbedrohlich. Und als solches entflammt es den Kampf für das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung neu.

Denn restriktive Abtreibungsgesetze und dadurch bedingte unsicher durchgeführte Abtreibungen verhindern Schwangerschaftsabbrüche nicht. Sie machen sie nur gefährlicher. Restriktive Abtreibungsgesetze kosten Schwangere das Leben – „vor allem in den Ländern, die das ,ungeborene Leben‘ mit besonders restriktiven Gesetzen zu ‚schützen‘ versuchen“, wie Alicia Baier für die „taz“ schreibt. Laut dem Guttmacher Institute gehen weltweit acht bis elf Prozent der Müttersterblichkeit auf nicht richtig durchgeführte Abtreibungen zurück.

Die Kriminalisierung und damit einhergehende Stigmatisierung von Abtreibungen bedingen auch heute eine mangelhafte Versorgungslage, unter der vor allem arme Schwangere leiden. Denn das Urteil des Supreme Court bedeutet in den USA für Betroffene, unter Umständen in einen anderen Bundesstaat reisen zu müssen, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen zu können. Doch die USA sind damit bei Weitem kein Einzelfall. Auch in Deutschland müssen ungewollt Schwangere häufig sehr weite Wege zurücklegen. Das ist für ärmere ungewollt Schwangere kaum möglich. Infolge der Einordnung von Abtreibungen als strafrechtliches Unrecht werden die Kosten des Eingriffs hierzulande zudem nicht von Krankenkassen übernommen. Erst bei einem sehr geringen Einkommen ist das möglich – und geschieht auch dann nicht immer sowie ohnehin unter einem erschwerten Zugang.

Eine Frage der Verhältnisse

Das Recht auf und der Zugang zu Abtreibungen sind demnach vor allem auch eine soziale Frage. Und eine Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse im Gesamten. Denn für reproduktive Selbstbestimmung braucht es gesellschaftliche Strukturen, die eine sichere Versorgung, Zugänge für alle, Beratungsangebote und weitere Unterstützung gewährleisten.

Am Tag dieses Urteils weiß ich nicht so recht, wie es weitergehen soll. Und auch jetzt bleibt die Wut, die Ohnmacht, die Ratlosigkeit. Was ich weiß, ist allerdings, dass der Kampf für unsere Befreiung weitergeht. Weil er weitergehen muss. Denn am Kampf für das Recht auf Abtreibung wird fühlbar, in welche schweren Ketten der Kapitalismus uns legt. Er beansprucht alles, unsere Arbeitskraft, unser Verhalten, unser Leben. Er raubt uns das In-Sicherheit-Wiegen, die Freiheit, unsere Selbstbestimmtheit. An Tagen wie dem 24. Juni spüren wir diese Ketten ganz besonders.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Das ist alles nichts Neues. Nicht die Angriffe auf reproduktive Rechte, nicht die Klassenfrage, die sie durchzieht, und erst recht nicht das Aufbegehren gegen diese Ungerechtigkeiten. Im Gegenteil: Die Kämpfe für reproduktive Selbstbestimmung bilden eine lange Tradition feministischen Aufbegehrens gegen die Herrschaft von Staat und Kapital über unsere Körper. Dass sie nichts an Aktualität eingebüßt haben, heißt nicht, dass sie sich nicht gewinnen lassen.

Schon zu Zeiten der Weimarer Republik war das Abtreibungsrecht heftig umkämpft. Auch damals, während der ersten Welle des Feminismus wurden Abtreibungen als soziale Frage begriffen. Und schon damals wurde das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen im Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch als „Klassenparagraf“ bekämpft.

Denn damals wie heute entscheiden die ökonomischen Bedingungen maßgeblich über den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Mit der fortschreitenden Industrialisierung schoss die jährliche Anzahl an Abtreibungen in die Höhe. Unter den elenden Verhältnissen in den Städten waren proletarische Frauen häufiger gezwungen, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, weil sie die zusätzlichen Kosten eines Kindes nicht stemmen konnten. In Reaktion auf die steigenden Zahlen von Abtreibungen wurde Paragraf 218 verabschiedet. Unter der Kriminalisierung von Abtreibungen litten seit jeher die Schwangeren der Arbeiter*innenklasse. Wohlhabende Schwangere verfügten auch unter den gegebenen Umständen über die Möglichkeit, einen kostspieligen, aber diskret und qualifiziert durchgeführten Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Proletarische Frauen hingegen mussten Dienste von Laien in Anspruch nehmen oder versuchten häufig, die Abtreibung eigenhändig vorzunehmen. Das endete für sie nicht selten tödlich. Wenig überraschend ist vor diesem Hintergrund, dass vor allem Proletarier*innen von der Strafverfolgung auf Grundlage des Abtreibungsverbots betroffen waren. Den proletarischen Frauen war es aufgrund ihrer Lebensverhältnisse schlicht nicht möglich, die Diskretion zu wahren, die reichere Frauen sich erkaufen konnten.

In Zeiten des aufstrebenden Kapitalismus gab es zudem einen erheblichen Bedarf an verfügbarer Arbeitskraft. Die Disziplinierung und Kontrolle gebärfähiger Proletarier*innen war, so lautet eine Argumentationslinie, somit auch bedingt durch die Notwendigkeit, Arbeitskräfte zu reproduzieren. Der Gedankengang verläuft dabei folgendermaßen: Die Kriminalisierung von Abtreibungen führt zu einer höheren Geburtenrate und diese wiederum bedeutet mehr Arbeitskraft. Die Argumentation, restriktive Abtreibungsgesetze dienten auch jetzt dazu, die Reproduktion von Arbeitskraft zu sichern, wird in aktuellen Debatten ebenfalls verwendet. Sie weist aber in Bezug auf heutige Umstände deutliche Lücken auf, wie Paul Heidemann im „Jacobin Magazin“ argumentiert. Selbstverständlich jedoch ist die Misogynie und Geschlechterhierarchie, die sich in den gegenwärtigen Angriffen offen zeigt, tief in der kapitalistischen Ökonomie verwurzelt. Eine Reihe von Faktoren – sei es schlechtere Bezahlung, häufigere atypische und prekäre Arbeitsverhältnisse usw. – verstärkt die Rolle von Frauen als Sorgearbeiter*innen. Die Angriffe auf reproduktive Selbstbestimmung sind dementsprechend nicht Teil eines geheimen Plans, um Arbeitskraft zu schaffen, sondern schlicht der Spiegel einer extrem ungleichen Gesellschaft.

Auch nach hundert Jahren des Aufbegehrens

Zurück aber zur Historie: Insbesondere Sozialist*innen und Kommunist*innen versuchten schon vor etwa hundert Jahren, eine ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 zu erwirken. Ihr Widerstand war dabei nicht nur ein Auflehnen gegen das Abtreibungsverbot selbst, sondern sie wollten auf den Bruch mit dem kapitalistischen System im Gesamten hinwirken. Kommunist*innen und Frauenrechtler*innen wie Clara Zetkin waren der Auffassung, dass die Emanzipation der Frau nur durch die Befreiung der Arbeiter*innenklasse zu erreichen sei. Die sogenannte Frauenemanzipation war somit keine Einzelfrage, sondern ein Teil der großen sozialen Frage, die erst durch die Revolution und den Durchbruch zu einer sozialistischen Gesellschaft beantwortet werden könne, von Clara Zetkin auf dem Internationalen Arbeiter-Congress zu Paris 1889 verlautbart.

Das Urteil des Supreme Court verdeutlicht einmal mehr: Freiheit und Sicherheit werden uns nicht geschenkt, erst recht nicht durch die Gerichte. Wir müssen sie erkämpfen. Das wird nur gelingen, wenn wir uns organisieren, solidarisch Seite an Seite stehen und einander Hilfe leisten. Wenn wir reproduktive Selbstbestimmung als soziale Fragen politisieren und sie so in materielle Kämpfe überführen, können wir gegenwärtige Angriffe abwehren und sie in Fortschritt umkehren.

Wie das gehen könnte, dafür bietet bspw. die argentinische feministische Bewegung ein Anschauungsbeispiel, wie Naira Estevez in einem Text für Missy geschrieben hat. Ein wichtiges Signal ist, dass sich anlässlich des Urteils des Supreme Court auch die Gewerkschaften für einen gerechten Zugang zu Abtreibungen positionierten. Denn gewerkschaftliche Organisierung und die Politisierung von Gewerkschaften können wichtige Machtressourcen im Kampf für Sicherheit und Selbstbestimmung sein. Nicht als isolierte Auseinandersetzung, sondern als Teil von Klassenkämpfen.

Wir brauchen einen langen Atem – auch nach hundert Jahren des Aufbegehrens. Denn Erfolge werden wir nur erringen, wenn wir den Herrschenden die Kontrolle über unsere Körper entreißen. Eine feministische Bewegung, die wirkliche Veränderung erlangen will, muss deshalb die Verhältnisse über Bord werfen wollen. Sie muss den Besitzanspruch des Staates über den Körper und die Gebärfähigkeit von Menschen nicht nur ein Stück weit zurückdrängen wollen, sondern fundamental infrage stellen. Und sie ersetzt ihn durch den Anspruch, selbst Besitz zu ergreifen, selbst zu entscheiden, selbst zu bestimmen – individuell und kollektiv.