Von Francis Seeck

Deutschlands faulster Arbeitsloser jubelt: ‚Jetzt gibt’s Hartz IV auf dem Silbertablett.‘“ So titelte die „Bild“, nachdem das Bundesverfassungsgericht im vergangenen November die Sanktionen für ALG2- Bezieher*innen eingeschränkt hatte. Diese Hetze gegenüber erwerbslosen Menschen ist eine Form von Klassismus. Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, z. B. einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen, aber auch Arbeiter*innenkinder. Arme Menschen, so das Vorurteil, sind faul, kriminell, dumm und an ihrer Armut selbst schuld. Klassismus dient der Abwertung, Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen. Er hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld.

Klassistische Gewalt hat eine lange Tradition. Im Nationalsozialismus wurden als „asozial“ Stigmatisierte, z. B. Bettler*innen und Sexarbeiter*innen, mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet und unter dem Begriff „Aktion Arbeitsscheu Reich“ in Konzentrationslager verschleppt. Die Debatte um Klassismus wurde von sozialen Bewegungen angestoßen. Ende der 1980er-Jahre gründeten sich in Westdeutschland Proll-Lesbengruppen. Lesben, die in der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, auf Bäuer*innenhöfen oder in Heimen aufgewachsen waren, organisierten sich. Von ihnen gingen antiklassistische Interventionen in die Frauen- und Lesbenbewegung aus, z. B. die Einrichtung von Umverteilungskonten. Vor 15 Jahren gingen in Deutschland Tausende Menschen gegen die Hartz-IV-Reformen auf die Straße. 2010 gaben Heike Weinbach und Andreas Kemper den Band „Klassismus. Eine Einführung“ heraus, der eine Debatte zu Klassismus in linken Kreisen anstieß. Häufig wird in Diskussionen zu Klassismus der weiße Fabrikarbeiter in den Vordergrund gerückt. Dabei haben trans Personen, alleinerziehende Mütter und Menschen, die Rassismus erfahren, ein hohes Armutsrisiko. Die Schwarze feministische Wissenschaftlerin bell hooks wies 2000 in dem Buch „Where We Stand: Class Matters“ auf die Bedeutung von Klasse und die Verwobenheit mit Rassismus und Sexismus hin. Bei der Klassenzugehörigkeit geht es neben ökonomischem (Eigentum, Vermögen) auch um kulturelles (Bildungsabschlüsse) und soziales Kapital (Vitamin B). Auch der Name, Wohnort, Sprache und der Geschmack können Marker für Klasse sein. Häufig verschränken sich Rassismus und Klassismus, wenn etwa von „Armutsmigration“ gesprochen wird.

Trotz vielfältiger antiklassistischer Bewegungen ist Klassismus immer noch unsichtbar. So hält sich der Mythos, dass wir in Deutschland in einer „Leistungsgesellschaft“ leben und alle, die „hart genug arbeiten“, es nach „oben“ schaffen können. Tatsächlich jedoch leben wir, wie die Autorin des Buchs „Wir Erben: Was Geld mit Menschen macht“ Julia Friedrichs betont, in einer Erbengesellschaft. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zusammen sechzig Prozent des Gesamtvermögens. In Deutschland werden jedes Jahr ca. 400 Milliarden Euro vererbt. Erbschaften machen in Westdeutschland mittlerweile ein Drittel des Gesamtvermögens aus. Dass es kein Aufbegehren gibt, hat auch mit Klassismus zu tun. Verinnerlichter Klassismus führt zu Scham und der Abgrenzung von anderen Betroffenen. Auch Klassenprivilegien werden selten benannt. So ist es aktuell umso dringlicher, über Klasse zu sprechen, gegen Klassismus aktiv zu werden und gemeinsam Klassenkämpfe zu organisieren.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

Von Maike Zimmermann
Illustration: Judith Weber

Seit Anfang November berichten Menschen vor allem, aber nicht nur aus Ostdeutschland unter dem Hashtag Baseballschlaegerjahre von ihren – größtenteils traumatischen – Erlebnissen mit Neonazis in den 1990er- und Nullerjahren. So wichtig diese Berichte sind, so schwer sind sie in ihrer Wucht auszuhalten. Denn es geht nicht nur um Schläge, Be- leidigungen, Erniedrigungen und Bedrohungen, sondern auch um das Wegsehen der anderen, um das Im-Stich-gelassen-Werden von weiten Teilen der Gesellschaft.

Mich werfen diese eindrücklichen Berichte zurück in eine andere Zeit. Nach dem Pogrom von Hoyerswerda beschloss ich, gerade mal 15 Jahre alt, zur Antifa zu gehen. Ich hatte das Glück, diese Antifa-Lauf- bahn in einer westdeutschen Metropole einzuschlagen, die mehr oder minder fest in „linker Hand“ war: Hamburg. Das sah im Hamburger Umland schon ganz anders aus. Wie oft bin ich nach der Schule quer durch die Stadt gegondelt, um gegen

die Bundesgeschäftsstelle der FAP (die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei war eine rechtsextreme Partei, die 1995 verboten wurde, Anm. d. Red.) zu protestieren? Oder wir fuhren in die „Brennpunkte“ im nördlichen Niedersachsen, nach Tostedt oder Buxtehude. Oder wir unterstützten die Antifaschist*innen in Mölln, wenn die Neonazis wieder auf dem Herbstmarkt Stress machten – so auch bevor sie bei einem rassistischen Brandanschlag 1992 drei Menschen ermordeten. Die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im Jahr 2011 zeigt vor allem zweierlei: Die Gesellschaft reagierte auf die rassistischen Anschläge der 1990er-Jahre mit Betroffenheit und Lichterketten. Wir hingegen waren fixiert darauf, die Strukturen aufzudecken, die Bedrohung abzuwehren, Neonazis zurückzudrängen. Das hieß aber auch: Wir haben nur die Täter*innen gesehen. Die Betroffenen rechter Gewalt sind uns viel zu oft aus dem Blick geraten.

Missy Magazine 01/20, Real Talk, Alte Freunde
©Judith Weber

Das schreibe ich, obgleich es auch im Folgenden ausschließlich um die Täter*innen gehen wird. Denn das Zweite, was der NSU gezeigt hat, ist: Es sind die gleichen Menschen, die gleichen Zusammenhänge, die gleichen Kontinuitäten, die dafür verantwortlich sind, dass auch heute noch Menschen angegriffen und ermordet werden. Wer sich mit Neonazinetzwerken beschäftigt, trifft immer wieder auf „alte Bekannte“. Und auch in dem Milieu des nicht organisierten Neonazismus wurde mit dem Erstarken von Pegida und anderen rassistischen Mobilisierungen offensichtlich: Wir haben es hier mit der er- wachsen gewordenen Generation Hoyerswerda zu tun. Es sind die „Glatzen“ von damals, die heute Mitte vierzig bis Mitte fünzig sind, Familienväter und -mütter. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass man mit rassistischer Gewalt auf der Straße Gesetze ändern kann.

Eine Figur, die seit den frühen 1990er-Jahren immer wieder auftaucht, ist Thorsten Heise. Er begann seine Neonazikarriere als Landesvorsitzender der FAP in Niedersachsen. Nach deren Verbot gründete er die Kameradschaft Northeim und hielt deren Treffen in seinem Haus ab. Das Onlineportal „Endstation.rechts“ berichtet im Jahr 2018: „Das dazu gehörige Grundstück war auch Ort für Rechtsrock-Konzerte, bspw. im Oktober 1995, als rund eintausend Neonazis den Auftritt der britischen Band No Remorse aus dem Umfeld des bewaffneten Arms Combat 18 (C18) des Neonazinetzwerks Blood & Honour besuchten.“ 1999 zog Heise nach Fretterode in Thüringen. 2004 trat er zusammen mit Ralph Tegethoff und Thomas Wulff in die NPD ein. Es ging darum, die Neonaziszene zu einen und die Partei auch für das militante Kameradschaftspektrum attraktiv zu machen. Heute ist Thorsten Heise stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD.

Schon zu FAP-Zeiten lernte Heise William Browning kennen. Dieser gehörte in den frühen 1990er-Jahren zum Gründungskreis von Combat 18 in England. Mit dem Tod von Ian Stuart Donaldson, dem Gründer von Blood & Honour, wuchsen beide Organisationen zusammen – Combat 18 wurde zum militanten Arm des neonazistischen Musiknetzwerks von Blood & Honour. Blood & Honour gilt als das bedeutendste Unterstützungsnetzwerk des NSU und bot Geld, Kontakte und Know-how. In Deutschland wurde Blood & Honour im Jahr 2000 verboten. Das Verbot betraf jedoch nicht Combat 18. Nur ein halbes Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU strukturierte sich dieser militante Arm neu. In diesem Sommer wurde eine Serie von Bombendrohungen gegen Moscheen und gegen die Partei Die Linke mit Combat 18 unterzeichnet. Kurz zuvor veröffentlichte Combat 18 ein offizielles Video, in dem sie einen Zusammenhang ihrer Gruppierung mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bestreiten. Robin Schmiemann, das berichtet das Rechercheportal „Exif“, verlas die Erklärung. Er gehörte schon Mitte der 2000er einer C18-Gruppe im Dortmunder Raum an. Die Verbindungen von Dortmund und Kassel im Zusammenhang mit Combat 18 und der rechtsextremen Gruppe Oidoxie Streetfighting Crew standen im Rahmen der Untersuchungen des NSU-Komplexes wiederholt im Fokus.
In den 1990er-Jahren entstand in Deutschland noch ein zweites Netzwerk: die Hammerskins, eine Organisation, die 1986 in den USA gegründet wurde und sich als Elite von Naziskinheads begreift. Ideologisch geht es vor allem um die „Reinheit der weißen Rasse“. Die Hammerskins haben strenge Aufnahmekriterien: Es dauert unter Umständen Jahre, bis ein Anwärter sich selbst als Hammerskin bezeichnen darf (die Hammerskins sind eine Bruderschaft, da geht es um „echte Kerle“). Ähnlich wie Blood & Honour organisieren Hammerskins geheime Konzerte, produzieren und vertreiben Musik – und fahren damit hohe Gewinne ein. Nach dem Verbot von Blood & Honour wuchs noch enger zusammen, was ideologisch schon vorher nah beieinander war. Heute trifft sich die Szene regelmäßig auf gemeinsamen Events. Zurück zu Thorsten Heise. Er gilt seit Mitte der 1990er- Jahre als die Kristallisationsfigur von Combat 18, ohne jemals eine offizielle Funktion in der Organisation gehabt zu haben. Stattdessen organisiert er Rechtsrock-Konzerte, wie den „Eichsfeldtag“, bei dem regelmäßig einschlägige Bands auftreten. Auch beim Schild-und-Schwert-Festival im sächsischen Ostritz tritt er als Veranstalter vor die Presse. In diesem Sommer musste ein dortiger Programmpunkt aufgrund von zu wenigen Teilnehmer*innen ausfallen: der Kampf der Nibelungen, bei dem Neonazis anderen Neonazis freefight-mäßig die Fresse polieren. Als Mitorganisator die- ses seit 2013 stattfindenden Kampfsport-Events gilt Robert Schmiemann – der aus besagtem Video. Verantwortlich ist der Dortmunder Alexander Deptolla von der Partei Die Rechte. In einer Pressemitteilung der antifaschistischen Zeitung „LOTTA“ im Dezember 2017 heißt es: „Tatsächlich sind die Strukturen der militanten Hammerskin Nation (,Hammerskins‘) seit der ersten Veranstaltung im Jahr 2013 maßgeblich in die Organisation eingebunden. Alexander Deptolla steht im engen Kontakt mit diesem konspirativ agierenden, internationalen Neonazi-Netzwerk, bspw. zu einem der exponiertesten Personen der deutschen Ham- merskins Malte Redeker.“ Redeker fungierte mehrfach als Ringrichter dieser rechten Kampfsport-Events.

Thorsten Heise – übrigens ein guter Bekannter von Björn Höcke, deren Kinder dieselbe Schule besucht haben – ist ein besonders offensichtliches Beispiel für Einfluss und Verbindungslinien in die unterschiedlichen Bereiche der extremen Rechten. Es gibt weitere neben ihm. Neonazis mit langen Karrieren, in deren Umfeld neue Neonazis herangezogen wurden, an die der Staffelstab weitergegeben wird. 2008 warf Thomas Wulff bei der Beerdigung des ehemaligen FAP-Chefs Friedhelm Busse eine Hakenkreuz-Fahne auf den Sarg. Neben ihm standen Siegfried Borchardt („SS-Siggi“) aus Dortmund und Matthias Fischer, damals aktiv im mittlerweile verbotenen Freien Netz Süd. Fischer war als Kontakt für Nürnberg im Telefonbuch von Uwe Mundlos verzeichnet. Heute lebt er in Brandenburg und ist dort Führungsfigur der Partei Der Dritte Weg, zusammen mit Maik Eminger. Kurz vor dem Verbot des Freien Netz Süd wurden dessen Strukturen in die damals neu gegründete Partei Der Dritte Weg überführt. Maik Eminger ist der Zwillingsbruder von André Eminger. Dieser wurde im Münchner NSU-Prozess zwar zu einer Haftstrafe verurteilt, doch er verließ unter dem Applaus der anwesenden Neonazis als freier Mann den Gerichtssaal. Im Prozess trug er einen Pullover mit der Aufschrift „Brüder schweigen“ – ein in der Szene verbreitetes Bekenntnis zum Terror des „Leaderless Resistance“.

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht wird behauptet, die Neonaziszene „brachte dem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) München (…) – wie auch schon dem gesamten Strafverfahren – weitgehend Desinteresse entgegen“. Und das, obwohl bspw. im Februar 2018 die Band Oidoxie bei einem „Solidaritätsabend“ für André Eminger vor Mitgliedern von C18 auftrat. Anders als im Verfassungsschutzbericht behauptet, gelten er und die anderen Angeklagten im NSU-Prozess in der Szene sehr wohl als Heldenfiguren. Das milde Urteil kann von Neonazis durchaus auch als An- sporn gelesen werden. Noch verwunderlicher ist jedoch, dass weder Combat 18 noch die Hammerskins überhaupt an irgendeiner Stelle in dem Bericht von 2018 erwähnt werden. Zu Blood & Honour findet sich lediglich ein Eintrag über deren Verbot. Thorsten Heise wird als NPD-Mann und Veranstalter des Schild-und-Schwert benannt, andere führende Figuren von C18 tauchen nicht auf. Seit dem Sommer 2019 behauptet Innenminister Horst Seehofer immer mal wieder, er wolle Combat 18 verbieten. Passiert ist bislang nichts. Und es ist auch fraglich, wie sehr ein über Monate angekündigtes Verbot die Strukturen wirklich nachhaltig treffen kann. Genug Zeit, sich auf ein mögliches Verbot vorzubereiten, war da.

Sicherlich bewegen sich militante extreme Rechte nicht nur im Umfeld von Blood & Honour, Combat 18 oder den Hammerskins. Zu nennen sind hier vor allem digitale internationale Netzwerke auf der einen und prepper-ähnliche Strukturen wie Nordkreuz oder Hannibal auf der anderen Seite. Gleichzeitig gibt es ein extrem rechtes Milieu, für das die alten, gewachsenen Neonazistrukturen auch ohne organisatorische Anbindungen Anknüpfungspunkte und Ideenpool bieten – für Neonazis wie die Gruppe Freital, Revolution Chemnitz oder Sturmbrigade. Die „Glatzen“ aus den Baseballschlägerjahren und ihre Kinder – sie waren immer da.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

 

Von Ana Maria Michel

Das Vorspiel, Missy Magazine 01/20, Filmrezis
©2019 Lupa Films

In weißem Hemd und schwarzer Hose betritt Alexander Paraskevas (Ilja Monti) die Bühne des Musikgymnasiums. Seinen Namen muss er zweimal sagen, weil er beim ersten Mal nicht verstanden wird. Hinter den Titel des Musikstücks, das er auf der Geige vorspielen will, setzt er ein „vielleicht“. Ihre Kolleg*innen sind nicht überzeugt, nur Lehrerin Anna Bronsky (Nina Hoss) sieht etwas in diesem Jungen – und setzt durch, dass er aufgenommen wird. Dabei ist Anna, von der Ina Weisse in „Das Vorspiel“ erzählt, nicht gerade eine, die weiß, was sie will. Sie leidet unter der Angst, etwas falsch zu machen. In ihrem Unterrichtszimmer, wo sie noch am ehesten die Kontrolle hat, beginnt sie, mit Alexander zu üben. Ihr Schüler wird ihr so wichtig, dass sie darüber ihren Sohn vergisst. Es geht ein Riss durch die Familie. Doch auch Anna selbst ist zerrissen zwischen dem Wunsch nach Perfektion und der Angst vor dem Versagen. Sie beginnt, jede Kontrolle zu verlieren. Annas Tage vergehen einer nach dem anderen, sie sind geprägt von kurzen Begegnungen. Über allem liegt Musik, aber Weisse zeigt nichts, woran man sich länger festhalten könnte. Der Regisseurin gelingt es, die Anspannung auf subtile Weise ansteigen zu lassen. Ihre Figuren sagen nicht viel, doch in jedem Blick beginnt man, eine Enttäuschung zu sehen, einen Vorwurf. Da ist etwas, das einem die Luft zum Atmen nimmt. Und dann kommt sie, die Katastrophe.
Das Vorspiel D 2019. Regie: Ina Weisse. Mit: Nina Hoss, Simon Abkarian, Ilja Monti, Sophie Rois u. a., 99 Min., Start: 23.01.

Die Kunst der Nächstenliebe
Von Barbara Schulz

Die Kunst der Naechstenliebe, Missy Magazine 01/20, Filmrezis
©Pascal Chantier / Epithète Films / Twentieth Century Fox France

Isabelle, Mitte fünfzig, bürgerlich, verheiratet, zwei Teenie-Kinder, große Pariser Wohnung, hat sich mit Haut und Haar der Hilfe von Bedürftigen verschrieben. In ihrem Job bringt sie Geflüchteten und Analphabet*innen Französisch bei und bürdet sich dabei viel auf. Um ihre Schützlinge in Lohn und Brot zu bringen, will sie ihnen kostenlose Fahrstunden geben lassen, und zwar in der von der Pleite bedrohten Fahrschule um die Ecke. Der muffelige Fahrlehrer, der sogar in seinem Büro haust, ist anfangs gar nicht begeistert. Ihre Familie hingegen vernachlässigt Isabelle. Die Kids vermissen die Mutter, ihr Ehemann, zehn Jahre jünger als sie und aus Bosnien, wo sie ihn zu Kriegszeiten „gerettet“ und sich in ihn verguckt hat, vermisst seine liebende Ehefrau und schleift Isabelle zur Paarberatung. Als der zunehmend Griesgrämigen dann auch noch eine deutsche Sprachlehrerin zur Seite gestellt wird, die jünger und positiver ist, viel zu perfekt wirkt und ihr die Bedürftigen abspenstig macht, wird sie zur Furie – und gefeuert … Klar, auch in diesem modernen französischen Film wird viel gelacht, gelitten und gesprochen, dennoch ist „Die Kunst der Nächstenliebe“ anders. Weil die Protagonist*innen so liebevoll gezeichnet und mit bekannten und unbekannten Schauspieler*innen so gekonnt besetzt sind, dass man Tränen lacht und weint, auch, weil man sich wiedererkennt.

Die Kunst der Nächstenliebe FR 2018. Regie: Gilles Legrand. Mit: Agnès Jaoui, Alban Ivanov, Tim Seyfi, Claire Sermonne, Michèle Moretti u. a., 103 Min., Start: 30.01.

800 Mal Einsam
Von Amelie Persson

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, 800 Mal Einsam
©déjà-vu film UG

Es fühlt sich ein bisschen an, wie einer Audienz beizuwohnen. In ihrer Dokumentation „800 Mal einsam“ interviewt die Filmemacherin Anna Hepp den Regisseur Edgar Reitz. Sie outet sich sofort als Fangirl, trotzdem oder vielleicht gerade darum gelingt ihr ein spannendes Porträt. Ganz im Stil seines wohl bekanntesten Films, dem „Heimat“-Epos, wird in Schwarz-Weiß gedreht und sich viel Zeit gelassen. Hepp, ihr sichtlich engagiertes Filmteam und wir schauen dem Regisseur beim Nachdenken zu. Reitz, der zu Kriegsbeginn sechs Jahre alt war, erzählt prägende Episoden aus seiner Kindheit und von der Frage, die er sich selbst oft stellt: Wie kann jemand aus dem bäuerlichen Milieu im Hunsrück Filmemacher werden? Die Dokumentation ist von einer Langsamkeit geprägt, die Tiefe entstehen lässt, illustriert von Szenen aus seiner fünfzigjährigen Schaffenszeit als Regisseur. Edgar Reitz beschreibt seine Art des Filmemachens – eine Umwandlung der Realität in Fiktion – als Prozess, der seine eigenen Erinnerungen auslöscht. Die Emotionen steckt er in den Film, der dann Tausende Menschen rührt. Diesen Preis ist er für die einsam nebeneinander in den Kinosesseln sitzenden Zuschauer*innen bereit zu zahlen. „800 Mal Einsam“ ist ein kleiner Blick in die Gedankenwelt eines eigensinnigen Regisseurs und macht Lust, sein Werk genauer zu erkunden.

800 Mal Einsam. Ein Tag mit dem Filmemacher Edgar Reitz DE 2019. Regie: Anna Hepp. 84 Min., Start: 05.03.

Die perfekte Kandidatin
Von Indra Runge

Missy Magazine 01/20, Filmrezis,Die perfekte Kandidatin
©Razor Film

Eigentlich hatte Maryam andere Pläne: Eine tolle Stelle in einer Großstadt wollte sie ergattern, ihre Heimatstadt, ihren Vater und ihre zwei Schwestern für eine bessere berufliche Perspektive verlassen. Doch dann kommt alles anders. Denn Maryam lebt in Saudi-Arabien. Und wenn ein Visum plötzlich digital vorliegen muss, dann kann frau das nicht allein klären, sondern ihr Vormund (Vater, Ehemann etc.) muss ran. Und so landet Maryam bei einem entfernten Cousin, einem ranghohen Beamten, in der Hoffnung, er könne unbürokratisch weiterhelfen, weil ihr Vater gerade wegen einer Konzertreise nicht vor Ort ist. Ursprünglich wollte die junge Ärztin nach Dubai auf einen Ärzt*innenkongress, um sich dort für eine Stelle in Riad zu bewerben. Und im nächsten Moment findet sie sich mitten im Wahlkampf für den Gemeinderat wieder. Sie. Eine Frau. Das geht doch nicht. Spätestens als sie ihre Nikab ablegt und für die Verbesserung der Straßenverhältnisse vor der Notaufnahme, in der sie arbeitet, eintritt, mischt sie ihre konservative Gemeinde ordentlich auf. Mit unerschüttlicher Beharrlichkeit und Biss geht sie ihren Weg und lässt sich weder beeindrucken noch beirren. „Die perfekte Kandidatin“ ist die Geschichte einer Emanzipation, einer ganz persönlichen, aber auch einer, die der Hälfte einer Gesellschaft, die in einer Art Parallelwelt schon relativ frei und unbeschwert lebt, Mut gibt. Mut, dass Veränderung möglich ist. Wenn nicht heute oder morgen, dann bald. Bestimmt.

Die perfekte Kandidatin DE/SA 2019 Regie: Haifaa Al- Mansour. Mit: Mila Al Zahrani, Nora Al Awadh, Dae Al Hilali u. a., 101 Min., Start: 12.03.

Little Women
Von Anna Opel

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, Little Woman
©Photo by Wilson Webb ©2019 CTMG, Inc.

Den eigenen Weg gehen, schreiben, damit Geld verdienen. In der Figur der Jo March hat die Schriftstellerin Louisa May Alcott ihr Alter Ego geschaffen. Zu Alcotts Zeiten waren Ideen für Männer reserviert. Deshalb empfiehlt die reiche Tante March (Meryl Streep) den ambitionierten Schwestern Jo (Saoirse Ronan) und Amy (Florence Pugh), wohl gewählt zu heiraten: der einzige Weg für eine Frau, ein gutes Leben zu führen. Meg (Emma Watson) sagt schließlich Ja. Für Jo kommt die Ehe auch nicht infrage, als ihr enger Jugendfreund (Timothée Chalamet) sich ihr mit verzweifeltem Gestammel unter freiem Himmel offenbart. Sie sagt Nein. Um jeden Preis will die Schriftstellerin auf eigenen Beinen stehen. 180 Jahre hat der Stoff auf dem Buckel. Unter Greta Gerwigs Regie kommen Figuren und Dialoge frisch daher. Mit festen Schritten führt Saoirse Ronan ein charakterstarkes Ensemble an. Fern von Klischees reiben sich die Figuren an den Geschlechterkonventionen ihrer Zeit. Die Anarcho-Energie aus Kindertagen glimmt in den jungen Erwachsenen weiter. Alles ist möglich, wenn frau es zu denken wagt. Die Rededuelle im Film stecken voller Esprit und Ernsthaftigkeit. Differenziert zeichnet Gerwig komplexe und selbstbewusste Frauenfiguren, fehlbare Menschen, Schwesternliebe. Und sonst? Das 19. Jahrhundert war die Hochzeit der Sklaverei in den USA. Von heute aus merkwürdig ist der weiße Blick auf das Jahrhundert. Das Thema Rassismus ist im Roman ausgespart, die Adaption hätte das korrigieren können.

Little Women US 2019. Regie: Greta Gerwig. Mit Saoirse Ronan, Florence Pugh, Meryl Streep u. a., 134 Min., Start: 30.01.

Nachlass / Passagen
Von Monika Raič

Missy Magazine 01/20, Filmrezis,Nachlass/Passagen
©2019 Film Kino Text

Wer heute diese Rezension liest, konnte Menschen begegnen, die den Holocaust überlebt haben. Wir konnten direkt mit denjenigen sprechen, die sich in der Welt nach Auschwitz zurechtfinden mussten: Die einen kämpften um eine lebenswerte Zukunft nach dem Schrecken, andere verdrängten oder leugneten, und wieder andere wurden sprachlos. Dieser Stille widersetzte sich u. a. die 68er-Generation. Sie forderte von ihren Eltern und Großeltern, die in unterschiedlichster Weise Teil des NS-Regimes waren, eine aktive Auseinandersetzung. Rund siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden Holocaust-Überlebende und Zeitzeug*innen aber rar. Ein Gesicht, das Auschwitz überlebt hat, warnt eindringlich vor Hass, Antisemitismus, Rassismus und dem Vergessen. Wie können wir Erinnerung lebendig halten, wenn diese Eindringlichkeit bald nicht mehr da ist? Das ist die zentrale Frage von „Nachlass“. Der sehr sehenswerte Dokumentarfilm zeigt an so unterschiedlichen Gegenständen wie einem KZ-Galgen oder einem vererbten Klavier, dass diese Objekte zwar nicht direkt zu uns über die Vergangenheit sprechen, dass wir aber durch sie Geschichte erzählen können. Der sachliche Blick der Kamera und die eindringlichen und hoch informativen Interviews mit verschiedenen Akteur*innen führen zu einem realistischen Porträt von Mensch und Gesellschaft: Vergessen ist notwendiger Teil des Lebens, umso wichtiger ist die Arbeit dagegen – das stetige Stolpern über das menschengemachte Unheil, das sich jederzeit wiederholen kann.

Nachlass / Passagen DE 2019. Regie: Christoph Hübner, Gabriele Voss. 112 Min., Start: 23.01.

Varda par Agnès
Von Sonja Eismann

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, Varda par Agnés
©Cine Tamaris 2018

Agnès Varda ist im März 2019 mit neunzig Jahren gestorben, aber jetzt ist sie da und spricht, als wäre sie nie weggegangen. Sie sitzt auf einer Bühne in einem Theater, einem Kino, einer Stiftung und erzählt dem Publikum vor Ort, und uns im Kino, ihr Leben in Filmen, Fotos und Kunstwerken. Ihre für die letzten Jahre charakteristische Mönchsfrisur – oben weiß, unten rot – leuchtet, während sie als so nahbare wie fesselnde, so unprätentiöse wie spaßige Chronistin Lebensdaten und -werke durcheinanderwirbelt und alles doch wieder ineinandergreifen lässt. In diesem letzten Film der großen französischen Regisseurin, die gemeinsam mit ihrem Mann Jacques Demy die Nouvelle Vague gleichzeitig prägte und hinterfragte, lässt sie mithilfe von meisterklassenartigen Erklärungen und altem sowie neu gedrehtem Filmmaterial ihre drei Existenzen als Fotografin, Regisseurin und Künstlerin Revue passieren – wobei die der politischen Kommentatorin und Aktivistin überall mitfährt. Ob sie ihre großen Erfolge wie „Cléo de 5 à 7“ (1961) oder „Vogelfrei“ (1985 mit der damals erst 17-jährigen Sandrine Bonnaire als Landstreicherin, die sie im neuen Film nochmals trifft) vorführt, sich darüber amüsiert, dass sie in „Hundert und eine Nacht“ (1995) die beiden Superstars Catherine Deneuve und Robert de Niro in einem Boot auf einem winzigen Teich zusammenbrachte, an die 1968 fast zufällig entstandene Doku über die „Black Panthers“ erinnert oder auf den feministischen Aktivismus von „Die eine singt, die andere nicht“ verweist, der sie ihr ganzes Leben begleitet habe – immer ist sie hellwach und engagiert, ohne einen Hauch von Selbstgefälligkeit. Ihr großes Interesse für ihre Mitmenschen, „les vrais gens“, ist besonders in ihren weniger bekannten Dokus über bitterarme Hausbesetzer*innen, vereinsamte Witwen oder prekäre Essensretter*innen avant la lettre zu spüren – und natürlich in ihrer rührenden Liebeserklärung an ihren 1990 verstorbenen Mann, „Jacquot de Nantes“ (1991). Inmitten all dieser Energie und Hingabe ist es kaum zu fassen, dass Varda nicht mehr da sein soll – aber immerhin hinterlässt sie uns diesen Film.

Varda par Agnès F 2019. Regie: Agnès Varda. 116 Min., Start: 06.02.

Hilma af Klint –Jenseits des Sichtbaren
Von Ava Weis

Missy Magazine 01/20, Filmrezis, Jenseits des Sichtbaren
©kinofreund eG 2019

„Die Kunstgeschichte muss umgeschrieben werden“ – der Titel des „SZ“-Artikels mag etwas reißerisch wirken, passt aber perfekt, wenn man einmal verstanden hat, dass eine der bedeutendsten europäischen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts schlicht vergessen wurde. Seit jeher wurde davon ausgegangen, dass Wassily Kandinsky 1911 das erste abstrakte Gemälde geschaffen hat. Blöd nur, dass bereits 1906 solch ein Bild entstanden ist. Die schwedische Malerin Hilma af Klint, 1862 in eine Familie von Seeoffizieren geboren und später herausragende Studentin der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm, ist zwar teilweise für ihre naturalistischen Werke bekannt, ihr abstraktes Schaffen hingegen blieb der Öffentlichkeit lange verborgen. Da ihre Arbeiten zu Lebzeiten nie öffentlich gezeigt wurden, sah auch das MoMA keinen Anlass, sie in seine Sammlung aufzunehmen. Nun hat sich Regisseurin Halina Dyrschka aufgemacht, das zu ändern. In ihrer Reportage zeigt sie in ruhigen Sequenzen und Interviews, welch bedeutende Pionierin Hilma af Klint war und welche Umstände dazu geführt haben, dass erst im Jahre 2018 ein Teil ihrer insgesamt 1500 Gemälde im Guggenheim Museum ausgestellt wurde. Am Ende kann man nicht verstehen, warum dieser herausragenden Forscherin und Künstlerin, die sich mit den Schnittstellen von Naturwissenschaften, Spiritualität und Kunst auseinandersetzte, immer noch nicht die Beachtung geschenkt wird, die ihr zusteht.

Hilma af Klint – Jenseits des Sichtbaren DE 2018. Regie: Halina Dyrschka. 98 Min., Start: 05.03.

Dieser Texte erschienen zuerst in Missy 01/20.

Von Sibel Schick

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ist am 01. Oktober 2017 in Kraft getreten. Seitdem macht die Bundesregierung Netzwerkanbieter wie Facebook, Twitter, YouTube u. a. für die Inhalte verantwortlich, die die Nutzer*innen posten. Wenn Inhalte gemeldet werden, müssen sie innerhalb 24 Stunden geprüft und gelöscht werden, sofern sie gegen deutsche Gesetze oder Gemeinschaftsregeln der Plattformen verstoßen. Allerdings sind es keine Jurist*innen, die diese Inhalte prüfen. Es ist zwar bekannt, dass das Personal bei Facebook dafür geschult wird. Wer die Meldungen bei Twitter überprüft, weiß bisher aber niemand.

©Tine Fetz

Die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) stellte im Januar ihren Gesetzentwurf zur Änderung des Netzwerkdurchsetzunggesetzes vor. Der Entwurf will u. a. alle Telemediendienste zwingen, Daten ihrer Nutzer*innen an Behörden und den Geheimdienst weiterzugeben. Das heißt von Strickanleitungen bis hin zur Haustiervermittlung, von BDSM-Foren bis hin zu Immobilienportalen kann das alle Onlineangebote treffen. Dabei müssen die Nutzer*innen keine Straftaten begehen. Die Daten dürften selbst bei Ordnungswidrigkeiten angefordert werden. Das ist ein Schritt in Richtung des nassesten Traums von Faschist*innen: Überwachungsstaat nach großem „Black Mirror“-Stil, made by SPD.

Spätestens wenn die AfD ihre*n erste*n Bundesinnen- oder -justizminister*in stellt, würden solche Überwachungsgesetze selbstverständlich gegen Schwarze oder jüdische, transgeschlechtliche oder homosexuelle Menschen und Andersdenkende missbraucht werden. Darüber scheint sich die SPD keinerlei Sorgen zu machen. Aber auf wessen Kosten?

Auch wenn heute nicht alle Betreiber die Daten ihrer Nutzer*innen sofort an die Behörden weitergeben möchten, ist es möglich zu ermitteln: So konnten z. B. im Juni 2019 mit großen Razzien in 13 Bundesländern Wohnungen von Personen durchsucht werden, die auf Facebook antisemitische Beleidigungen und öffentliche Aufforderungen zu Straftaten veröffentlicht haben sollen. Auch Twitter kann unter bestimmten Bedingungen dazu gebracht werden, die Daten der Nutzer*innen herauszugeben. Wenn die Behörden dranbleiben, kann also auch heute ermittelt werden, ohne dass Überwachungsgesetze eingeführt werden müssen.

Die Bundesregierung muss zuerst einmal Onlinekriminalität neu denken und neu definieren: Alle Straftaten, die online stattfinden, haben reale Folgen. „Online“ und „Offline“ sind keine klar getrennten Welten. „Hass im Netz“ ist Hass. „Onlinegewalt“ ist Gewalt. Betroffene von Onlinekriminalität sind betroffen, auch nachdem sie das Handy ausmachen und in ihrer Küche einen Tee kochen.

Die Hemmschwelle, online Straftaten zu begehen oder Menschen zu drohen oder zu mobben, ist niedriger, weil das Netz nicht nur von den Täter*innen, sondern auch von der Gesetzgebung als eine Paralleldimension betrachtet wird, in der andere Regeln herrschen.

Mit den neuen technischen Möglichkeiten kommen auch neue Herausforderungen. Z. B. können Trolle im Netz personenbezogene Daten doxen, also unerlaubt veröffentlichen und verbreiten, und zwar auf eine für Außenstehende unverständliche Weise. Einer schreibt bspw. den Klarnamen einer Person, der andere postet den Straßennamen drunter, der Nächste schreibt die Hausnummer. Die ganze Adresse wird so in einer Nachrichtenkette von mehreren Personen veröffentlicht. Das ist eine Straftat, wird aber oft nicht als solche behandelt. Ist das schon „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, wenn sich eine Gruppe über Chatgruppen oder Foren für solche Angriffe verabredet und diese dann umsetzt? Die Gesetze sind da. Es fehlt nur an Kenntnis über die Methoden der Täter*innen und die Motivation, hartnäckig zu ermitteln.

Statt über eine Nachbesserung des NetzDG sollte Lambrecht über dessen Abschaffung nachdenken. Wir brauchen bessere Strafverfolgung und angemessene Strafen für die Täter*innen, aber doch nicht, dass Privatunternehmen weiterhin entscheiden sollen, welche Inhalte rassistisch und antisemitisch oder strafrechtlich relevant sind. Seit NetzDG in Kraft getreten ist, wird es von organisierten Trollen vor allem gegen marginalisierte Menschen missbraucht, aber auch gegen Andersdenkende, um sie stillzulegen. Und das funktioniert, weil Privatunternehmen eben nicht zu einer solchen Aufgabe qualifiziert sind. Während Trolle marginalisierte Personen menschenfeindlich beleidigen, ihnen Gewalt androhen, ihre personenbezogenen Daten unerlaubt veröffentlichen und verbreiten, was reale Folgen hat, wie unerwünschte Sendungen oder Hausschmierereien, melden sie sie massenhaft und sorgen für ihre Sperrung. Dieser Terror wird durch NetzDG begünstigt und gar ermöglicht.

Während die Meldungen durch verifizierte Twitter-Accounts ein besonderes Gewicht haben und eher zu Löschungen und Sperrungen führen können, ist es besonders hoffnungslos, verifizierte Accounts erfolgreich zu melden. So darf bspw. der „WELT“-Kolumnist Rainer Mayer (Don Alphonso) weiterhin twittern, obwohl er immer wieder mal Mordfantasien veröffentlicht.

Verdächtig ist auch, dass je mehr Accounts einen Inhalt melden, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Posts oder Accounts gelöscht werden. Da Twitter nicht transparent kommuniziert, wer die Meldungen prüft, ist es denkbar, dass die Löschung ausschließlich durch Algorithmen erfolgt. Wahrscheinlich wird also nicht gelesen, sondern nur gezählt. Wenn Hasskommentare nur von wenigen Accounts gemeldet und nicht entfernt werden, stärkt das den Täter*innen den Rücken und motiviert andere, ihrem Hass freien Lauf zu lassen.

NetzDG entnimmt der Bundesregierung die Verantwortung, Onlinekriminalität mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen und Täter*innen zu verfolgen, und schiebt die Verantwortung auf unfähige Privatunternehmen. NetzDG ist Augenwischerei.
Wir brauchen weder eine Reform des NetzDG noch Überwachung. Wir brauchen eine Bundesregierung, die die neue und große Rolle, die die Sozialen Netzwerke in unserem Leben spielen, versteht und aus diesem Verständnis heraus effektive Schutz- und Präventionsmaßnahmen entwickelt.

PS: Auch wunderschöne Tweets werden sinnlos gemeldet und gelöscht, und Verfasser*innen werden gesperrt. So wurde z. B. ein Tweet von dem Autor Till Raether unter einem meiner Tweets entfernt und er wurde für zwölf Stunden gesperrt.

Von Linn Penelope Micklitz

True-Crime-Storys sind in. Magazine und TV- Sendungen arbeiten im Monatstakt alte und aktuelle Kriminalfälle auf. Manche erklären die Faszination damit, dass das Sterben heute hinter verschlossenen Türen stattfinde – in Altenheimen etwa. Was im „realen“ Leben nicht greifbar ist, wird zur Prime Time wegkonsumiert.
 Umso tragischer, wenn die eigene Lebensrealität plötzlich aus dem Fernsehen zu kommen scheint und Menschen sich selbst im Mittelpunkt von Verlust, Berichterstattung und Traumabewältigung wiederfinden. Dass so ein Trauma an die nächste Generation vererbt werden kann, hat die Lyrikerin, Kritikerin und Autorin Maggie Nelson selbst erlebt. Ihre Tante wird mit Anfang zwanzig Opfer eines

Femizids – lange vor Nelsons Geburt. Doch der gewaltvolle, nie aufgeklärte Tod der Frau ist seit dem Verbrechen Teil der Familie. Jane heißt die Tante, die sie nie kennenlernt und die dennoch Teil ihres Lebens ist.
 So präsent ist dieses Familientrauma, dass Nelson einen Lyrikband schreibt, um der Tante näherzukommen. Kurz bevor sie das Buch „Jane. A Murder“ 2004 beendet, ruft ein Detective der Michigan State Police bei ihrer Mutter an. Es gebe einen Verdächtigen, eine Verhaftung stehe kurz bevor – 35 Jahre nach dem Mord, in dem Moment, in dem Nelson das Familientrauma zu den Akten legen will. Während sie Gerichtsverhandlungen besucht, Tatortfotos der Leiche ansieht und dabei von den Medien nicht aus den Augen gelassen wird, verspürt sie „einen heftigen Drang, all die Details aufzuzeichnen, bevor sie verschluckt würden, sei es durch Angst, Trauer, Vergessen oder Schrecken“. Sie erarbeitet die „Autobiografie eines Prozesses“, ein Buch, das sich, trotz des wahren Kriminalfalls, der es hervorgebracht hat, von vielen artverwandten Dokumentationen erheblich unterscheidet.

Missy Magazine 01/20, Literaturaufmacher
© Harry Dodge / Mac Arthur Foundation

Nelson jongliert zwischen der Tatsache, dass dieser Fall nicht der ihre ist, und den Auswirkungen, die dieses Verbrechen auf ihr eigenes Leben hatte. In dieser Anerkennung und Sichtbarmachung des transgenerationalen Traumas liegt die psychologische Feinheit des Buchs – hier wird nichts ausgeschlachtet, hier stellt eine Frau den Mord an ihrer Tante und dessen Aufarbeitung in Relation zu sich selbst und schafft damit eine aufrichtige Form von Trauer in Verbindung mit erkenntnisgeleiteter Selbstversicherung. So ist die Suchbewegung der Ermittlung eine Bewegung hin zu Jane, während Nelson auch sucht, aber in anderer Richtung: von Jane ausgehend hin zur trauernden Mutter, zum früh verstorbenen Vater, zur Schwester und zu sich selbst, hin zur eigenen Angststörung und Depression.

Maggie Nelson „Die roten Stellen. Autobiografie eines Prozesses“ Aus dem amerikanischen Englisch
von Jan Wilm. Hanser Berlin, 223 S., 23 Euro, VÖ: 27.01.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

Von Caren Miesenberger
Fotos: Alexa Vachon

Jessie Reyez’ größter Fan ist sie selbst. Bei ihrem Konzert im Berliner Bi Nuu hat sie die Haare zu einem losen Zopf gebunden und performt in ihrem eigenen Merchandise. Auf ihrem schwarzen Oversize-T-Shirt steht der Titel ihrer zuletzt veröffentlichten Single: „Far Away“. Jessie Reyez verkörpert unverschämte Selbstliebe und steckt ihr Publikum damit an. „Wisst ihr, wie glücklich ich bin“, ruft die in Toronto aufgewachsene Kanadierin. „Dass ich so weit weg von zu Hause bin und eine motherfucking ausverkaufte Show spiele?“

Der nächste Song sei ihr erster Platz eins als Songwriterin. „Shout out an Calvin Harris und Dua Lipa, denn sie haben den Song gekillt“, brüllt sie anschließend unter Jubel ins Mikrofon. „But a bitch wrote it!“ Dann performt die 28-Jährige „One Kiss“, besagten Song, DEN Sommerhit 2018. Eine cheesy House-Pop-Nummer mit viel Auto-Tune und ein paar Einschlägen aus frühem 2000er-UK-Garage. Jessie Reyez hat die Lyrics geschrieben. Und ist offensichtlich stolz darauf, damit acht Wochen lang auf Platz eins der UK-Charts gelandet zu sein, im Heimatland des DJs und Produzenten Calvin Harris. Im Berliner Bi Nuu geht das

Publikum, das vor allem aus jungen Frauen besteht, auch im Herbst 2019 durch die Decke. „One Kiss“ ist Jessie Reyez’ größter Hit, obwohl sie ihn im Original nicht mal selbst performt. Heute aber schon und auf der Bühne klingt sie Musikerin Dua Lipa sehr ähnlich, vom fehlenden Auto-Tune mal abgesehen. „One Kiss“ hat Reyez den Weg in den Mainstream geebnet. Dass Jessie Reyez es zu dieser Calvin-Harris-Kollaboration gebracht hat, verdankt sie ihrer Hartnäckigkeit. Mit 18 Jahren ging sie zu einem seiner Konzerte und dem einstigen UK-Popper turned EDM-Superstar so richtig auf die Nerven, weil sie ihm ihre CD aufzwingen wollte. „Ich bin viel feiern gegangen und hatte immer zehn Mixtapes in meiner Tasche“, erinnert sie sich im Missy-Interview. „Mitten in seinem Set bin ich, warum auch immer, zu ihm gegangen und wollte ihm mein Tape geben. Er musste lachen und guckte mich irritiert an. Aber dann kam sein Securitytyp oder Manager und nahm das Tape mit.“

Reyez entkam einem Rausschmiss nur, indem sie aus der Situation heraus crowdsurfte. Ob Harris ihr Mixtape jemals gehört hat, weiß sie nicht. Aber Jahre später, als sie 2017 ihren Song „Figures“ veröffentlichte, meldete sich der Topproduzent bei ihr über Twitter. Er schrieb: „Hey, wir in Los Angeles lieben dich, das solltest du wissen.“ Harris lud sie zu sich ins Studio nach L.A. ein, wo sie sich statt dem geplanten einen Tag für vier Tage verbarrikadierten. „Die Chemie war super“, sagt Reyez. So produzierte sie neben „One Kiss“ in der Zeit noch vier andere Songs. Jessie Reyez’ Erfolgsgeschichte verdankt sie also auch ihrem festen Glauben daran, nicht aufzugeben. Aber nicht immer hatte sie so ein Glück in der Zusammenarbeit mit Produzenten, wie sie bei ihrem Konzert ausführlich erzählt. „Ich habe mal einen Produzenten getroffen und meinte zu ihm: ‚Ich kann singen!‘ Darauf hat er gemeint: ‚Ja, Jessie, du kannst singen, aber wenn du Erfolg haben willst, dann musst du einen Schwanz lutschen, um einen Plattendeal zu kriegen.‘“ Das Publikum ist empört – und buht den Produzenten aus, dessen Name ungenannt bleibt. Reyez wirkt noch immer betroffen. „Ich muss jedes Mal die Energie in dem Raum checken, bevor ich diesen Song performe“, meint sie. „Denn ich muss sichergehen, dass keine Fuckboys im Raum sind.“ Menschen aus dem Publikum brüllen: „Fucker!“ und „Fuck that dude!“ Dann performt Jessie Reyez „Gatekeeper“. Das Lied handelt von Übergriffen in der Musikbranche und denjenigen, die dadurch Karrieren ruinieren. Die Performance ist kraftvoll, ihre Musik purer Mainstreampop. Der 2017 veröffentlichte Song klingt nach P!nk in ihren frühen Jahren oder Ariana Grande. Dafür kann ihre ultracoole Gitarristin bei einem Gitarrensolo so richtig reinhauen.

Die Geschichte dahinter ist schrecklich, denn die Situation basiert auf Reyez’ tatsächlicher Erfahrung. Dass der Produzent, über den sie singt, Noel „Detail“ Fisher ist, machte sie ein Jahr nach Release des Songs öffentlich. Da war Detail bereits wegen Übergriffen an anderen Frauen vor Gericht gelandet. Ob Reyez Angst hatte, mit dem Release von „Gatekeeper“ ihre Karriere zu gefährden? „Ich war nervös, aber ich hatte keine Angst“, antwortet sie. „Nur musste ich mich mit meinen Eltern zusammensetzen und sie warnen, bevor der Song rauskam. Der Vorfall war zwar Jahre her, aber als er geschah, habe ich es nur einer Person, mit der ich eng befreundet bin, erzählt. Ich wollte nicht, dass meine Eltern sich Sorgen machen.“ Unmittelbare Konsequenzen hatte der Song für Reyez nicht. „Ich habe ihn absichtlich sehr allgemein gehalten, weil ich nicht wusste, wozu Detail fähig ist. Ich wollte auch nicht, dass der Song sich nur um ihn dreht.“ Mit dem Release trat sie dennoch eine Debatte auf ihrem Instagram-Account los. Plötzlich meldeten sich viele User*innen, die ihr beipflichteten. Aber „die andere Art der Reaktion war fucked up“, sagt sie. Ihr Atem stockt, sie hält kurz inne. „Ich kann dir nicht sagen, wie viele Frauen sich bei mir gemeldet haben, aber es waren Tausende Nachrichten. Täglich kamen Nachrichten wie: ‚So was ist mir vor fünf Jahren passiert, aber ich bin jetzt verheiratet und habe Angst davor, es meinem Mann zu erzählen‘ oder ‚Das ist mir passiert, aber er ist mein Chef und ich will nichts sagen‘ oder ‚Es ist passiert, aber ist verjährt, und wenn ich es jetzt öffentlich mache, kann nichts getan werden.‘“

Missy Magazine 01/20, Jessie Reyez, Titel
©Alexa Vachon

Der in „Gatekeeper“ besungene Detail produzierte u.a. „Drunk in Love“ und „7/11“ von Beyoncé. Aber öffentlich distanziert hat diese sich nicht von ihm. Obwohl Beyoncé vor riesigen Feminismus-Bannern performt, Chimamanda Ngozi Adichie zitiert und eine der mächtigsten weiblichen Popstars ist. Äußern will Reyez, von der auch ein Song auf dem von Beyoncé kuratierten Soundtrack zum Film „Der König der Löwen“ erschien, sich dazu nicht. „Ich kann nicht über die Entscheidungen anderer sprechen. Darüber kann ich nicht urteilen.“ Auch sonst kollaboriert Jessie Reyez nicht nur mit unproblematischen Stars. Sie nahm beispielsweise eine Single mit Eminem auf. Dem Detroiter Superstar also, der auch schon über Vergewaltigung und häusliche Gewalt rappte. Andererseits zeigt Reyez’ Song „Gatekeeper“, wie #MeToo im Mainstreampop thematisiert werden kann. Und auch, wie viele Betroffene es gibt. „Ich habe das Gefühl, dass ich gesehen werde, und sie sehen mich, und wir sitzen im gleichen Boot“, kommentiert sie. „Aber es ist hart, traurig und herzzerreißend, zu sehen, wie gängig diese Erfahrungen sind“, sagt sie. Nicht nur in diesem Song verarbeitet sie persönliche Diskriminierungserfahrungen. In ihrem jüngsten Release „Far Away“ verbindet Reyez beispielsweise Fernbeziehungen und die Grenzpolitik der USA. „Far Away“ ist eine Ballade, die eigentlich total unpolitisch sein könnte, aber mit dem sehr expliziten dazugehörigen Clip an Schlagkraft gewinnt und wirklich berührend wirkt – gewissermaßen eine weichgewaschene, Mainstream-kompatiblere Form von M.I.A.s „Borders“. „Die Essenz des Songs ist: Die Regierung will, dass wir uns trennen“, meint Reyez. „Wenn wir uns das gesellschaftliche Klima in Bezug auf Immigration anschauen, in dem wir leben, ist es unmöglich, kein Bewusstsein dafür zu haben, was weltweit mit Grenzen passiert. Und die Art, wie Menschlichkeit verletzt wird. Es fehlt an Empathie. Als Latina ist es für mich sehr einfach, das zu fühlen. Vor allem, wenn ich in den Nachrichten auf meinem Bildschirm ein kleines Mädchen weinen sehe, das genauso aussieht wie ich. Das weint, weil es von seiner Familie getrennt wurde. Ich habe das Gefühl, dass oft zu legaler Migration geraten wird. Manchmal dauert der legale Weg sehr lange.“

Wie lange, hat Reyez am eigenen Leib erfahren. Ihre Eltern sind kolumbianische Immigrant*innen. In einem Radiointerview mit „Ebro in the Morning“ sagte sie, dass es 16 Jahre dauerte, bis ihre Familie legal nach Kanada einwandern konnte. Das kann Menschenleben kosten. „Wenn du Gewalt ausgesetzt wirst und davor flüchtest oder nach einem besseren Leben für dein Kind suchst, dann hast du nicht das Privileg, so lange zu warten, weil in der Zeit sehr viel passieren kann. Als ich diese Zeile geschrieben habe, wollte ich vermitteln, dass ich das sehe“, erklärt sie. „Ich will das Stereotyp überwinden.“ Jessie Reyez setzt sich nicht nur künstlerisch mit Grenzen auseinander. Wie stark diese auch in ihrer privaten Biografie wirken, machte sie kürzlich in einem Aufruf in sozialen Netzwerken deutlich. Reyez’ Tante lebte in Kanada und starb im Oktober 2019. Ihr letzter Wunsch war es, dass ihre Schwester sie besuchen komme. Weil die Botschaft Ewigkeiten brauchte, nutzte Reyez Twitter und Instagram, um ein Visum für die Schwester ihrer Tante zu bekommen. Ihr folgen 1,4 Millionen Menschen auf Instagram. Dank der Hilfe einer ihr bis dahin absolut unbekannten Followerin gelang es Reyez, das Visum zu bekommen. „Pack das unbedingt in deinen Artikel, das ist dope!“, sagt sie im Interview. „Es gibt dieses Mädchen, sie heißt Natalia. Sie ist eine fucking Heldin! Ich habe mich an die Botschaft und an Organisationen auf Twitter gewandt und irgendwann Rückmeldungen bekommen. Darin hieß es: Jemand müsse in Bogotá sein, um das Visum an der Botschaft abzuholen. Sie konnten es nicht einfach schicken.“ Allerdings gab es ein Problem.: „Meine Tante wohnt in Calí. Das sind sechs Stunden Fahrt, die konnte sie nicht machen. Sie brauchte das Visum schnell, um rechtzeitig zur Beerdigung zu kommen. Wir kannten aber niemanden in Bogotá. Auf den Instagram-Post hat Natalia geantwortet, dass sie es abholen könne. Wir haben uns nie getroffen. Sie ist nur eine Instagram-Freundin. Und nun der Grund, dass meine Tante herkommen und ihre Schwester sehen konnte, bevor sie kremiert wurde.“ Die Geschichte zeigt, wie herzlich Reyez mit ihren Fans bondet und dass sie sich weit über die Musik hinaus mit ihnen verbunden fühlt. „Ich weiß, dass es ein riesiges Privileg ist, so eine große Followerschaft zu haben, und ich halte das nicht für selbstverständlich. Deshalb bin ich Natalia wirklich dankbar.“

Nicht nur in persönlichen Notsituationen verbündet Jessie Reyez sich mit anderen jungen Frauen weltweit. Nachdem sie als 18-Jährige beim Gig von Calvin Harris keinen Erfolg hatte, hat sie sich fest vorgenommen, alle Mixtapes anzunehmen, die ihr zugesteckt werden. „Es ist verrückt, weil ich natürlich nicht die Zeit habe, mir alles anzuhören. Aber ich gebe mein Bestes und will Leute ermutigen.“ Denn Reyez weiß, wie wichtig es ist, auf die eigene Arbeit aufmerksam zu machen und Rückenwind von Menschen zu bekommen, die bereits wahrgenommen werden. „Als mein Mixtape damals rauskam, war Instagram noch kein großes Ding. Aber wenn heute irgendwer etwas Geiles macht und mir seinen Instagram-Namen gibt, dann schaue ich mir das an. Das ist das Wichtigste, was ich Leuten mitgeben will: ‚Post your shit! Hab keine Angst!‘ Denn du musst es den Menschen einfach machen, gefunden zu werden.“ Sie verabschiedet sich, das Auto wartet, Reyez muss weiter. Eine Woche nach dem Interview ist sie für ihre EP „Being Human In Public“ das erste Mal für einen Grammy nominiert. Hartnäckigkeit zahlt sich aus.

Jessie Reyez „Being Human In Public“ Island / Universal Music

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

Interview: Ulla Heinrich

Nach 15 Jahren, sieben Alben und unzähligen Auftritten, vom Dorf-AZ bis zu ausverkauften Hallen, veröffentlichte die feministische Rapperin Sookee im Dezember 2019 auf ihren Social-Media-Kanälen ein Statement, in dem sie überraschend ihr Karriereende bekannt gab. Damit gewährt sie tiefe Einblicke in ihre Seelen- und Gedankenwelt und wendet sich von einer Musikindustrie ab, die am Ende alles verwertet – auch feministischen Aktivismus.

Im Auftaktgespräch der neuen Missy-Interviewreihe „Redaktionsbesuch“ lässt die Musikerin ihre Karriere Revue passieren, beschreibt schwierige Momente in der feministischen Szene und gibt Ausblick auf ihr neues Projekt Sukini.

Sookee in der Missy-Redaktion im Gespräch mit Ulla Heinrich. © Stefanie Kulisch

Dein Statement liest sich wie ein gut überlegter Trennungsbrief. Hast du diesen Schritt länger vorbereitet?
Seitdem ich raus aus DIY (Do-it-yourself)-Kontexten und rein in die Untiefen der Musikindustrie gekommen bin, habe ich gemerkt, dass das nichts für mich ist. Ich war immer unliebsam als die eine Feministin abgestempelt, die ein bisschen mitmachen darf, damit sie sich wieder beruhigt. Im Geschacher um Kohle, Bühnen und Slots hat sich für mich vieles manifestiert. Das ist ein Aspekt, der nicht die Frage von Feminismus und Nicht-Feminismus betrifft, sondern viel allgemeiner die Frage berührt, wie Menschen miteinander umgehen. Auch wenn das keine Neuigkeiten sind, in der Musikindustrie spielen Alkohol und Drogen eine essenzielle Rolle, daran hat man sich so gewöhnt, dass das nicht mehr thematisiert wird. Das ist eine große Schwierigkeit, bedeutet es doch, dass die Menschen durchgängig nicht präsent sind. Ich habe gemerkt, dass mich das belastet.

Inwiefern?
Für Auftritte musst du dich von einer Sekunde zur nächsten in einen Zustand bringen, in dem du extrem ablieferst. Ein guter Auftritt ist ein Abriss, nicht in einem emanzipatorischen Sinne, sondern wie ein Wreckingball. Es muss immer alles ein Superlativ sein. Der Wahnsinn, der Hammer, unfassbar … Man kann kein Foto von einem Festival posten, wo es nicht danach aussieht, als ob es die beste und wildeste Show überhaupt wäre. Das sind Sachen, die mich unglücklich gemacht haben. Du kannst nicht scheiße aussehend aus dem Tourbus steigen. Es gibt kein Backstage, alles ist Bühne, alles ist Öffentlichkeit. Es gab für mich keinen Rückzugsraum mehr. Backstage sitzt du nur durch eine dünne Wand getrennt von den größten sexistischen Arschlöchern und Frauenschlägern entfernt. Beim Auftritt stehen ein paar Tausend Menschen vor der Bühne und alle haben eine Meinung über dich. Wenn dein Slot vorbei ist, wirst du von der Bühne gefegt. Uns wird durch Castingshows und andere Aufstiegsträume vermittelt, dass dies ein erstrebenswerter Zustand sei. Für mich ist er das nicht. Während eines Interviews im letzten Festivalsommer hat sich einer meiner Erzfeinde ernsthaft anderthalb Meter vor mir aufgebaut und mich angestarrt. Der ist sechs Köpfe größer als ich und hatte seine Crew dabei. Mit der Interviewerin hatte ich vorher schon über ihn gesprochen und sie meinte, dass sie Angst vor ihm hat. Und natürlich denke ich dann in solchen Situationen daran, in die Konfrontation zu gehen. Gleichzeitig ist das gefährlich für meine körperliche Unversehrtheit und die meiner Crew. Das sind Spannungsmomente, die nicht entstehen, wenn ich – wie bei meinen neuen Projekt Sukini – am Nachmittag vor einem Publikum singe, das definitiv nicht alkoholisiert ist und ein Durchschnittsalter von acht Jahren hat. Als Sukini kann ich einfach meine Sache machen. Ich muss weder Angst vor den hohen moralischen Ansprüchen der feministischen Szene haben noch vor dem Sensationalismus und Verwertungsdruck der Musikindustrie. Das alles auszuhalten hat sich für mich im letzten Jahr zugespitzt, aber eigentlich ist es in jedem Jahr so gewesen.

Wie hat sich das ausgedrückt?
Mir ging es nach jedem Festivalsommer scheiße. Ich bin in eine depressive Episode geraten und in der Psychiatrie gelandet. Damit verbunden war dann die Enttäuschung der Leute, denen ich als Folge dessen lange vereinbarte Veranstaltungen absagen musste. Depression ist eine lebensgefährliche Krankheit und kein Internetmeme. 2019 war es wieder das Gleiche. Gleichzeitig beschweren sich die Leute über die Ticketpreise, was ich gut nachvollziehen kann. Ich selbst bin biestig geworden und meine Crew hatte keinen Spaß mehr mit mir, weil sie gemerkt haben, dass ich mich auf die Bühne quäle. Nach den Auftritten war ich nicht selten ein Häufchen Elend. Ich habe 2018 aufgehört, Alkohol zu trinken, und mich so wenigstens vor dieser Verausgabung geschützt. Das hieß aber auch, dass ich nüchtern auf die Bühne gegangen bin und total überfordert von der Anspannung und dem Umfeld war. Es war eine Form der Selbstüberschätzung, trotzdem weiterzumachen und zu glauben, dass ich siebzig Veranstaltungen im Jahr stemmen kann, plus Marketing, plus Interviews, plus Zeit für Netzwerke und Fans. Dazu bin ich noch Mutter. Ich wurde oft gefragt, wie ich das alles schaffe. Ganz ehrlich, ich habe es nicht geschafft. Ich habe da primär an mir gespart, womit niemandem geholfen ist. Nachdem ich im letzten Herbst wieder in der Klink gewesen bin, habe ich es zu meinem Therapieziel erklärt, dass sich etwas ändert. Meine Themen sind mir nach wie vor wichtig und ich will das alles noch machen, nur in anderer Form.

Welches Feedback hast du auf das Statement bekommen?
Ich habe bestimmt tausend Nachrichten bekommen. Es ist ein bisschen so, wie wenn jemand stirbt, da werden die Leute an ihre Endlichkeit erinnert. Viele meinten, dass es couragiert ist, sich zurückzunehmen, obwohl es karrieremäßig jetzt richtig losgehen könnte.
Für mich war das eine Überlebensstrategie und eine gute Gelegenheit, zu mir ehrlich zu sein und mich meinem eigenen Ego zu stellen. Denn ich hätte auf jeden Fall im nächsten Jahr bessere Slots auf den Festivals bekommen und spannende Features machen können. Die Türen waren alle offen. Aber jemanden anders anzulügen ist unfair und sich selbst anzulügen kann lebensgefährlich werden. An den Rückmeldungen habe ich gesehen: Ich bin eine Reflexionsoberfläche, die Menschen fragen sich durch mich, was ihre eigenen Belastungsgrenzen sind. Und das ist gut so! Viele Leute schreiben mir von sich und von ihren Depressionen. Ich habe gemerkt, dass, wenn ich mich öffne, sich die anderen auch öffnen. Mich selbst beeindruckt Ehrlichkeit auch, wenn Leute so stark sind zu sagen: „Ich kann das jetzt nicht“ oder „Ich kann es jetzt endlich“. Das sind die Momente, in denen ich auch meine eigenen Leistungskriterien infrage stellen kann.

Es ist nicht nur der Abschied der Kunstfigur Sookee, immerhin nutzt du den Namen auch privat.
Sookee als Kunstfigur gibt es nicht. Ob Bühne oder nicht macht keinen Unterschied. Diese Distanz konnte ich nie herstellen. Sookee ist schon lange auch privat gebräuchlich. Die meisten Leute wissen nicht, wie mich meine Eltern einst genannt haben. Ich habe mich auf Bühnen mehr geschämt, als ich mich nicht geschämt habe. Einfach für den Umstand, dass es eine Bühne gibt. Wenn ich dann aber kleinere Sachen gespielt habe, waren sie ausverkauft und ich hätte drei Abende hintereinander spielen müssen, um alle glücklich zu machen. Real war ich auch nicht mehr, weil ich größere Läden gespielt habe und so weiter. Ich habe mich nie für eine große Künstlerin gehalten. Ich wache nicht nachts auf und denke: Ich muss etwas kreieren! Und ich gehe auch als Performerin nicht auf. Für mich ist das alles harte Arbeit.

Kritisiert wurdest du in deiner Karriere eigentlich von allen Seiten. Wie bist du damit umgegangen?
Es gab an mich den Anspruch, feministische Themen an eine breite Masse zu vermitteln. Von dort kommt dann der Vorwurf: versteht kein Mensch, total elitär! Gleichzeitig wurde die Debattentiefe immer krasser. Das ist wahnsinnig viel Druck. Deshalb habe ich versucht, die Begriffslastigkeit loszuwerden und die Themen eher in narrativer Form unterzubringen. Wenn ich kritisiert wurde, wurde ich oft sofort als schlechter Mensch abgestempelt. Judgy zu sein ist ja auch Teil von Szenecoolness. Ich habe oft innerlich darum gefleht, dass sich dies anders verhält.

Welche Erfahrungen hast du gemacht?
Ich habe Gender Studies an der Humboldt-Universität studiert. Das war für mich keine schöne Zeit, weil ich wirklich nicht dazugehörte. Ich wollte etwas Überfachliches studieren und war mit meinen 19 Jahren total unbedarft. Auch dort war ich oft diejenige, die vieles noch nicht wusste. Es gab Leute, vor denen ich mich auf dem Campus versteckt habe. Es wurde sehr stark entlang eines bestimmten Wissenstands hierarchisiert. Jahre später gab es durch meine Musik teilweise eine kurze Idealisierung und wieder ein paar Jahre später wurde ich von den gleichen Leuten wieder abgestoßen und verurteilt. Wir sind natürlich nicht die erste Bewegungslinke, die sich selbst Steine in den Weg gelegt hat. All diese Kritik, die mich anstrengt, nervt und mir das Leben nicht leicht macht, übe ich selbst auch an anderen. Ich selbst bin dafür nicht Künstlerin genug, um all diese Aspekte so zu integrieren, dass ich mir, den Massen und einer eher avantgardistischen feministischen Szene gerecht werden kann. Und ich bin trotzdem immer dankbar für jede Kritik gewesen, auch wenn mir Leute teilweise wahnsinnig Unrecht getan haben. Beispielsweise als festgestellt wurde, dass ich nicht lesbisch, sondern nur bisexuell bin, obwohl ich nicht behauptet habe, lesbisch zu sein. Es war das, was die Leute gerne gesehen hätten. Oder wenn ich Bühnen mit bestimmten Menschen geteilt habe und dafür stark kritisiert wurde und andere das durften, weil sie diese und jene soziokulturellen Features mitgebracht haben. Wofür ich angegriffen wurde und wofür nicht, hatte am Ende etwas Mathematisches. Wenn ich die Kritiken und Angriffe gelesen habe, habe ich darauf natürlich reagiert. Psychisch und körperlich. Dir wird speiübel und du hast das Gefühl, dass jetzt alles vorbei ist. Diese Ambivalenzen erleben viele Menschen privat und beruflich und bei mir haben immer viele Leute dabei zugeschaut. Es gab Boykottaufrufe für meine Shows und die Forderung nach einem Berufsverbot für mich. Ich sehe es positiv: Von mir wurde viel erwartet, weil mir viel zugetraut wurde, und es konnten Leute an meinen Fehlern mitlernen. Deshalb bin ich nicht bitter geworden.

Was sind aktuell wichtige feministische Themen für dich?
Die Themen, die am meisten weh tun, sind immer am wichtigsten. Mir ist die Integration von Männlichkeit in feministische Diskurse wichtig. Es ist natürlich nicht die Aufgabe von Feminist*innen, cis Männer zu politisieren. Ich habe 2011 schon den „Einige meiner besten Freunde sind Männer“-Track gemacht, wo ich mir die linken Halbtagsfeministen vorgenommen habe. Gleichzeitig sind die strategisch wichtig. Männer müssen lernen, den Mund aufzumachen, wenn Unrecht passiert und gerade keine Feminist*in vor Ort ist. Wirklich lesenswert ist Jayrôme C. Robinets Buch „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“. Jayrôme kenne ich noch aus Slam-Poetry-Zusammenhängen, als wir beide noch nicht in der queeren Szene unterwegs waren. Auch wahnsinnig toll ist der „Transformers“-Podcast von Henri Jakobs, der mit mir Jahre als Bassist auf Tour war, und Christina Wolf. Solche Texte und Erzählungen brauchen mehr Aufmerksamkeit, weil wir damit viel über Männlichkeit lernen können. Verantwortungsübernahme muss durch die Menschen selbst entstehen. Wir können cis Männer keine Verantwortung übergeben, sie müssen diese selbst übernehmen.

Was nimmst du aus deinen vielen Jahren Aktivismus mit?
Nur in soziokulturellen Strukturen zu denken ist nicht ausreichend. Ich vermisse, wer wir abseits davon sind. Ich für meinen Teil kann es nicht mehr beantworten. Die Integration dessen, was uns abseits von Sprachlichkeit bleibt, hat in mir eine große Einsamkeit geschaffen. Identitätspolitik sollte so grundlegend wie Alphabetisierung sein. Menschen sind aber auch mehr als das. Die Befassung mit mentaler Gesundheit versucht, das wieder einzuholen. In der letzten Klinik haben mir meine Kategorien nichts geholfen, weil keiner der 130 Leute damit etwas anfangen konnte. Das ist etwas, was Kinder können, weil sie noch nicht von der Gesellschaft demoralisiert wurden. Sie haben diese große Zwischenmenschlichkeit: Da ist ein Kind, da ist noch ein Kind, los, lass uns spielen und gemeinsam anschauen, wie das Eichhörnchen den Baum hochrennt. Ich finde politische Radikalität total notwendig, aber mit der Radikalität gegen mich selbst muss ich aufhören.

Was war der schönste Moment deiner Karriere?
Der Moment, wo ich von der Bühne runterkann und ins Publikum gehe, um Leute zu sehen, die vorher im Publikum waren. Also wenn Leute wie Finna und Sir Mantis oben stehen und übelst abgehen. Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich mich riesig freue, wenn ich sehe, wie die und andere tierisch auf die Kacke hauen. Ich wollte immer eine queerfeministische Rapperin von vielen sein. Ich habe das alles gemacht, weil ich HipHop liebe, weil ich mich artikulieren wollte und weil ich eine Notwendigkeit verspürt habe, dass sich etwas verändert. Features möchte ich auch weiterhin machen. Auf dem neuen Album von Sir Mantis bin ich dabei.

Wen findest du im HipHop gerade toll?
Ich freue mich riesig, dass Finna wieder an den Start geht. Ich habe sie kennengelernt, als sie noch in einer Band gesungen hat und den Plan hatte, mehr zu rappen. Und jetzt zu sehen, dass sie ihre erste eigene Tour spielt, macht mich wahnsinnig glücklich. Ich bin auch ein riesiger Fan von Plaeikke aus Leipzig. Sie macht wirklich ihr Ding, davor ziehe ich den Hut. Nifty MC aus Weimar finde ich auch super. Sie hat eine eigene Radiosendung mit dem Namen „Doper than dope“. Sie hatte mich vor langer Zeit für ihre Abschlussarbeit interviewt. Mitzuerleben, dass sie von der Betrachter*innenperspektive aus an die Decks und ans Mic wechselt, ist einfach super.

Deine Utopie von einer emanzipatorischen Kultur wirst du ab jetzt mit Sukini verwirklichen. Warum Musik für Kinder? Finden wir darin auch die Hoffnung nach einer neuen Generation, die es besser macht?
Wer mich kennt, weiß, dass ich schon immer einen sehr kindlichen Zug an mir hatte. Ich konnte mir das Loslassen und Ausgelassensein gut bewahren. Es geht nicht darum, mir die nächste Nische zu schaffen. Ich habe da einfach Bock drauf. Ich habe in meinem Zimmerchen gesessen, hatte einen Joint, einen Beat und einen Stift und habe das Album geschrieben. Seit Langem hat mir Schreiben wieder Spaß gemacht. Sonst war der Prozess sehr anstrengend und ich musste nach einer geschriebenen Strophe erst mal drei Folgen einer Serie anschauen. Sukini ist der Teil von mir, der mit den sanften Utopien an den Start geht. Es gibt keine neuen Bühnenoutfits oder ein neues Image. Es geht darum, ein anderes Register zu nutzen, das bei mir schon vorhanden ist. Bei uns im Ort gibt es ein antifaschistisches Mahnmal. Als ich mit den Kindern unterwegs war, standen dort frische Blumen. Die Kinder haben gefragt, was dies bedeutet. Und das ist alles, was Sukini tut. Und danach steht mir der Sinn.

Sookee auf Tour:

29.02. Wien – WUK
01.03. Köln – Kantine (ausverkauft)
02.03. München – Technikum
06.03. Hamburg – Uebel & Gefährlich (ausverkauft)
07.03. Berlin Astra Gala (ausverkauft)

Deine Abschiedstournee heißt „Wenn es am schönsten ist“. Wie schaust du auf diese letzten Konzerte als Sookee?
Ich habe ein bisschen Schiss, denn die Erwartungen sind recht groß. Ich hätte ohne Probleme zwanzig Termine vollmachen können. Ich werde vermutlich jeden Abend auf der Bühne heulen. Und da ich zu siebzig Prozent mit der Nase weine, werde ich viele Taschentücher brauchen. Ich habe Lust, die Sukini-Sachen auszuprobieren, denn die machen mich einfach froh. „Wenn es am schönsten ist“ ist kein Zynismus. Ich feiere mit dieser Tour die Entscheidung, die ich getroffen habe: aufzuhören. Ich und viele andere haben jetzt oft genug erzählt, warum Sexismus scheiße ist, warum eine gut gerappte Vergewaltigungsfantasie eine Vergewaltigungsfantasie bleibt, was das mit Rape Culture zu tun hat und warum das Patriarchat für uns alle schlecht ist. Andere machen das weiter. Ich möchte etwas Neues machen. Und ich meine das nicht als Carpe-Diem-Arschgeweih. Bei allen großen und kleinen Themen, bei allen inneren und äußeren Hypes. Wir haben alle voll wenig Zeit, die paar Jahrzehnte gehen richtig schnell um. Wäre vielleicht nicht verkehrt, wenn wir uns ab und an mal daran erinnern.

Von Sascha Linde

Um 9.50 Uhr an einem Freitag im November 2019 öffnet sich mit fast einstündiger Verspätung der Gerichtssaal. Viele Bewohner*innen warten schon lange in der Kälte. Heute soll die Verhandlung in der Räumungsklage zur Liebigstraße 34 stattfinden, einem anarcha-queer- feministischen Hausprojekt in Berlin-Friedrichshain. Nach einer Bombendrohung war das Gericht zunächst abgesperrt, die Fassade des mehr als hundert Jahre alten Gebäudes mit lilafarbenen „L34 stays“ beschmiert, es gab Festnahmen und Einlasskontrollen.

In Berlin gibt es jedes Jahr Tausende Räumungsklagen, nur bei wenigen stehen Kamerateams und Journalist*innen Schlange. Doch das Eckhaus in der Liebigstraße – die 34 – ist kein gewöhnliches Haus. Es ist ein Hausprojekt ohne cis Männer mit einer fast dreißigjährigen Geschichte, dessen Besetzung wie bei vielen anderen Häusern in Berlin

später legalisiert wurde. Der Pachtvertrag des feministischen Hausprojekts ist Ende 2018 ausgelaufen, der Eigentümer Gijora Padovicz will ihn nicht verlängern. Dem Investor eilt sein Ruf voraus, ihm gehören zahlreiche Häuser in Berlin. Immer wieder werfen Mieter*innen ihm vor, dass er mit seinen Immobilienunternehmen Häuser aufkauft, modernisiert und Bewohner*innen dann verdrängt. Zum Termin ist er nicht anwesend.

Missy 01/20 Reportage Liebig34
©Cihan Cakmak

Als es endlich losgeht, bricht eine der Bewohner*innen im Raum zusammen, wieder wird die Verhandlung unterbrochen. Als es weitergeht, der nächste Zwischenfall: Menschen im Saal beginnen, sich die Kleider vom Leib zu reißen, schreien, ihre Oberkörper sind mit etwas beschmiert, das aussieht wie Blut. Sie werden aus dem Saal gezerrt, zusammen mit anderen, die sich aneinandergekettet haben und „Liebig bleibt“ rufen.

Zwei Wochen nach der Verhandlung treffe ich mich mit aktuellen und ehemaligen Bewohner*innen in der Liebig 34-Bar. Die Kneipe gab es schon in den Neunzigern, manche der Möbel stammen noch von damals. Mehrmals die Woche gab es KüFa, Küche für alle. Heute gibt es Eintopf mit Kartoffeln und Paprika. „The future is queer“, steht an der Wand. Im Radio singen Bill Medley und Jennifer Warnes im Duett „I’ve Had The Time Of My Life“ – mehr Hetero-Romantik-Klischee als in der Schlussszene von „Dirty Dancing“ geht vermutlich nicht. Die Menschen im Raum müssen lachen. Und doch hatten einige von ihnen wohl den ein oder anderen Moment, über den sie ähnlich kitschige Songs schreiben könnten. Mit dem gleichen Kariesrisiko wie der Nachtisch, ein zuckriger Fiebertraum aus veganer Mascarpone, Spekulatius und Karamell.

Lola, Katze und Adam z. B. Sie heißen eigentlich anders, genau wie ich. Denn auch ich habe einige Jahre in der 34 gewohnt. Die 34 ist für mich nicht nur ein wichtiger Teil der linken feministischen Szene, der in Gefahr ist. Sie ist ein Zuhause, das immer eines geblieben ist, selbst wenn ich längst weitergezogen bin.

Auch Lola wohnt schon lange nicht mehr im Haus. Sie kam 1991 als 22-Jährige zum ersten Mal aus Dänemark nach Berlin, lernte Leute aus der Hausbesetzer*innenszene kennen, es gab kostenlosen Alkohol – viel Tequila. Sie blieb zuerst sechs Wochen, doch ein Jahr später kam sie wieder und zog in die 34 ein. Bis heute ist sie mit dem Haus verbunden, wohnt nicht weit weg, führt Tourist*innen durch den Kiez und erklärt ihnen die Geschichte der Häuser. In einer Mappe hat sie Fotos von damals: sie in gestreiften Leggins und Jacke mit Aufnähern, ein Freund mit Iro und Kapuzenpulli am Frankfurter Tor. 1990er-Jahre-Hausbesetzer*innenszenen aus Berlin.

Als Lola in die 34 einzog, lebten noch cis Männer im Haus. Wann es zu einem reinen Frauen- und Lesbenprojekt wurde, weiß niemand mehr ganz genau. Lola erinnert sich, dass es schon Mitte der Neunziger einzelne Etagen gab, in denen nur Frauen gelebt haben. Irgendwann gab es nur noch einen Mann im Haus, der sei dann ausgezogen. Seitdem hat sich das Selbstverständnis der 34 immer wieder verändert, erst zu einem FLT-Projekt und schließlich zu einem anarcha-queerfeministischen Haus ohne cis Männer.

Missy 01/20 Reportage Liebig34
©Cihan Cakmak

„Vor zwanzig Jahren gab es ganz andere Feminismuswellen als heute. Alle Diskussionen, die sich in der feministischen Linken abgespielt haben, haben sich im Haus abgespielt“, sagt Katze. Sie lebt seit sechs Jahren in der 34, hatte sich aber zwischenzeitlich eine Auszeit genommen. Adam meint: „Das Haus hat nicht von Anfang an den perfekten Femi- nismus gefressen, das hat sich immer wieder verändert.“ Das Haus will versuchen, ein Safer Space für Menschen aus allen Ecken der Welt zu sein, die mehrfach diskriminiert werden, die auch Rassismus oder Transfeindlichkeit ausgesetzt sind. Die Bewohner*innen arbeiten gegen Hierarchien und strukturelle Unterdrückung an, von innen wie von außen. Das gelingt nicht immer einfach und ist ein ständiger, nie endender Prozess. Manchmal kann einen das auffressen, manchmal werden die Emotionen und Konflikte zu viel. Zu den Diskussionen im Kollektiv kommen die ständige Ungewissheit, wie lange es noch weitergeht, und ein in die Jahre gekommenes Haus, in dem immer wieder eine Regenrinne undicht wird oder eine Leitung verstopft. Wer es warm haben will, muss Kohlen schleppen. Geht etwas kaputt, muss es selbst repariert werden. Es ist ein beständiger Kampf, das Haus nicht auseinanderfallen zu lassen.

Das war es schon in den Neunzigern: „Damals haben viele Macker im Haus gewohnt“, erzählt Lola. „Die meinten, sie wären handwerklich begabt.“ Als sie Anfang der Neunziger mit einer anderen Frau die Fliesen im Kneipenklo instand setzen wollte, kam jemand vorbei und hat sich darüber lustig gemacht. „Das fällt ja alles gleich wieder runter“, soll er gesagt haben. „Dass die Macker sich so sicher waren, hat mich unsicher gemacht“, sagt sie heute. Richtig wahrgenommen habe sie das damals aber nicht: „Wenn sexistisches Mackergehabe immer um einen herum ist, merkt man gar nicht, wie stark das immer noch ist.“ Das Fliesenmosaik von damals hing zumindest noch länger, als es cis Männer im Haus gab. Seitdem sind noch oft Bäder kaputtgegangen und wurden repariert, wohl jede*r Bewohner*in könnte dazu eine eigene Geschichte erzählen. Z. B. über die immer wieder gescheiterten Versuche, ein neues Badezimmer einzurichten. Über das Bad, das der Legende nach von einer genervten und eifersüchtigen Gaästin geflutet wurde, weil die Menschen im Zimmer unter dem Bad Sex hatten. Und über das Weihnachten, an dem es plötzlich von der Decke tropfte, weil ein Abwasserrohr komplett zerfressen war. „Am Ende lag ich stundenlang in der Kacke. Dazwischen habe ich versucht, Weihnachtsessen mit Pancakes zu machen“, sagt Adam. „Queer zu sein heißt auch, dass man keine Angst vor Dreck, Scheiße und Pisse hat“, sagt Lola.

Es geht aber nicht nur darum, dass das Haus nicht auseinanderfällt, sondern auch die Leute, die darin wohnen. Dass sie nicht zerbrechen an der Aufgabe, das Haus am Leben und Funktionieren zu erhalten, und nicht zerquetscht werden zwischen Papierkram, wöchentlichem Plenum, Lohnarbeit, Ausbildung, Jobcenter und Repression. Denn auch die verbindet die Generationen in der 34. Wohl alle im Haus erinnern sich an das Geräusch der Mannschaftswagen, die in der Rigaer Straße patrouillierten. „Das Geräusch von Polizeiwannen haben wir im Schlaf gekannt“, sagt Lola. Die Polizeipräsenz in Friedrichshain verlief phasenweise. 1990 wurden die Häuser in der nicht weit entfernten Mainzer Straße mit Tausenden Polizist*innen aus ganz Deutschland geräumt. Es flogen Steine und Molotow-Cocktails. Danach war es lange ruhiger, viele der noch bestehenden Häuser wurden legalisiert. 1996 gab es eine weitere große Räumungswelle unter dem neuen CDU-Innensenator Jörg Schönbohm.

Ende 2015 erklärte die Polizei den Friedrichshainer Nordkiez rund um die Rigaer Straße zum kriminalitätsbelasteten Ort. In einem sogenannten Gefahrengebiet darf die Polizei Personen etwa anlasslos durchsuchen. Die 34 ist davon besonders betroffen, denn sie ist das letzte Hausprojekt direkt am Dorfplatz, der Kreuzung zwischen Rigaer und Liebigstraße. Vor dem bunt bemalten Haus mit den vielen Transparenten treffen sich vor allem im Sommer Menschen zum gemeinsamen Brunch oder auf ein Bier und eine Zigarette am Abend. „Hier kann man einfach ohne Ziel hingehen, Leute treffen, quatschen“, sagt Lola. Manchmal bleibt es aber nicht friedlich, dann knallt es auf dem Dorfplatz. Dann fliegen Farbbeutel und Steine auf Polizeiwagen und auf der Kreuzung brennen Mülltonnen. Das sind Nächte, in denen der Polizeihubschrauber unablässig über dem Viertel kreist. Anwohner*innen sind genervt, teils von dem Krawall, teils von der Polizei. 2016 erteilte die Bäckerei von gegenüber der Polizei Hausverbot, die während der Einsätze regelmäßig in dem kleinen Laden auf die Toilette ging. Über Wochen hinweg schepperten Anwohner*innen jeden Abend aus ihren Fenstern mit Töpfen, um gegen das Gefahrengebiet zu protestieren.

In der 34 zu leben, kann schwer auf den Schultern lasten, aber genauso viel den Rücken stärken. „Ich glaube, es gibt keinen Menschen, der hier gewohnt hat, den das Haus nicht total geprägt hat“, sagt Katze. „Hier ist es möglich, sich über jede Norm hinwegzusetzen.“ Normen interessieren wenig, es ist ein Raum, in dem sich alle ausprobieren können, in dem Platz ist für ganz unterschiedliche (A-)Genderidentitäten. In der 34 werden Regenrinnen in Highheels und Minirock repariert und im Overall bunte Torten gebacken.

Missy 01/20 Reportage Liebig34
©Cihan Cakmak

„Hier merkt man, dass man sich alles trauen kann, dass man immer eine Lösung finden kann“, sagt Adam. „Man lernt, Barrikaden zu bauen, man lernt, darauf zu achten, dass es nicht reinregnet, lernt, Papierkram zu regeln.“ Niemand kann all das von Anfang an. Manche waren schon Handwerker*innen, bevor sie ins Haus eingezogen sind, andere lernen im ersten Winter zwangsweise, wie sie einen Ofen reparieren. „Es geht darum, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und sich gleichzeitig alles zuzutrauen und an den Aufgaben zu wachsen.“

Das Gleiche gilt für politische Aktionen. „Am Anfang machen die Leute vielleicht erst mal eine Türschicht bei einer Party oder Demo und am Ende trauen sie sich mehr“, sagt Adam. Das sei Teil der Radikalität, die das Haus verkörpert: „Wir versuchen, eine spezielle Art von Militanz zu leben. Wir sind wütend, aber wir achten aufeinander. Dazu gehört auch, darauf zu schauen, ob nach einer Demo alle wieder zu Hause angekommen sind.“ Das passt schwer in das Bild vom Proto-Autonomen, das Medien so gern zeichnen: furchtlose cis Typen, die Autos anzünden, Polizeihubschrauber blenden und sich danach mit ihrer Zeit im Knast brüsten. „Ich finde es schön, den Kampf um das Haus nicht nur militant, sondern gleichzeitig ehrlich zu führen“, sagt Katze. „Natürlich macht es mir Angst, im Winter auf der Straße zu sitzen. Und natürlich macht es mir Angst, dass morgens die Bullen in meinem Zimmer stehen.“

„Sagen zu können, dass man schwach ist, ist immer auch eine Stärke“, sagt Lola. In den Neunzigern habe es viel Druck gegeben, besonders militant zu sein. „Wer keine Mollis oder Steine geworfen hat, musste sich fast schämen.“ Adam hat den Eindruck, dass es in den letzten Jahren immer mehr militante Aktionen von feministischen Gruppen gab. In Solidarität mit dem Haus, aber auch mit den Ereignissen in Rojava. „Feministische Aktionen sind allgemein sichtbarer geworden“, sagt sie. Feministische, radikale Aktionen sind nicht immer leicht zu verstehen: „Die Bullen wissen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen“, sagt Katze. Einmal habe ein Beamter bei einem Polizeieinsatz auf dem Dorfplatz vor dem Haus gestanden und gesagt: „Ah, das ist also dieses Muschihaus.“ Bei einer anderen Polizeiaktion in der Nähe des Hauses rief ein Polizist „Frauen und Kinder zuerst“ in die Menge.

Hilflosigkeit ließ sich auch am Tag des Gerichtsprozesses spüren. Nach der Intervention schloss der Richter die Öffentlichkeit aus, nur noch Pressevertreter*innen durften bleiben. Ein Justizbeamter stöhnte auf und kommentierte, am Abend habe er sich ein großes Bier verdient. Ein Urteil gab es noch nicht, noch dürfen die Bewohner*innen bleiben. Nach der Verhandlung kesselte die Polizei die Personen auf dem Gerichtshof ein und verteilte Anzeigen. „Männer dürfen jetzt gehen“, sagte ein Polizist irgendwann. Damit, dass manche der Anwesenden in keine der üblichen Schubladen passten und die Angaben in ihren Pässen nicht mit den Vorstellungen der Beamt*innen übereinstimmten, waren sie offensichtlich überfordert.

Adam ist zufrieden, wie der Tag gelaufen ist: „Das war ein Schauprozess – und wir haben eine Show daraus gemacht. Wir haben das System kurzzeitig zum Kollabieren gebracht“, sagt sie. „Das war unser Tag. Wir haben bestimmt, wie der Prozess läuft, auch wenn wir nicht bestimmen werden, wie er ausgeht.“ Dass die 34 am Ende gewinnt, glaubt sie nicht und das macht ihr Angst: „Wenn ich daran denke, dass es die 34 irgendwann nicht mehr gibt, bekomme ich Panik. Es ist wie eine Gang, die immer hinter einem steht“, sagt sie. Eine Gang, die ihr Selbstvertrauen gibt. Lola will das am liebsten von sich wegschieben: „Die 34 ist wichtig, sie ist auch wichtig für die Welt. Es geht um Rebellion, es geht darum, sich nicht unterkriegen zu lassen, es geht um Zusammenhalt. Ich weigere mich, daran zu denken, dass das irgendwann vorbei sein soll.“ Die Frage ist vielleicht eher, was vorbei sein wird. Etwas von der Liebig 34 wird sicher immer bleiben. Denn das Haus können sie den Bewohner*innen vielleicht nehmen, aber die Gang bekommen sie nie.

Von Franziska Kreuzpaintner

Bereits der Titel „In The Body Of A Fish Out Of Water“ zeigt die vielschichtige und mehrdeutige Welt, in der sich Kot‘átkovás Arbeiten bewegen. Diese können in ihrer Gänze nur erfasst werden, nimmt man sie als ambivalente Objekte, die ein abschließendes Urteil kaum zulassen. Wie schon beim Club Dada belustigen und irritieren vor allem die Zeichnungen und Collagen der 1982 in Prag geborenen und dort lebenden Künstlerin. Wenn tierische wie menschliche Körperteile in Symbiose mit Maschinen und anderen

(industriellen) Gegenständen stehen; wenn Torsi ersetzt werden durch Wagenräder und Aktentaschen. Bis man erkennt, was Kot’átková hier vorführt: die unvermeidliche und unumkehrbare Verwucherung des Menschen mit den Strängen des Kapitalismus und der Leistungsgesellschaft.

Missy Magazine 01/20, Kunstaufmacher, Versicherung
©Eva Kot’átková hands for bigger flexibility. Or for loss of control, 2018. Metall, Stoff, Maße variabel. Courtesy die Künstlerin, Meyer Riegger Berlin/Karlsruhe

Auch die zunächst wie Individuen erscheinenden Gestelle aus Stahl verkommen bei längerer Betrachtung zu Typen, zu Produkten gesellschaftsgemachter Vermassung. Aus der Wand hervortretende dreidimensionale Geflechte aus kaltem Industriematerial mimen Unterleiber, Beine oder Arme. Metallrohre, die allein schon durch ihre Biegung wie ein Rollator aussehen, enden in antiquierten Hand- und Golfschuhen und erinnern so an einen alten, gebückt gehenden Menschen. Im Kreis angeordnete Stühle, je durch stählerne Konstruktionen erweitert, zeigen „typische“ Repräsentant*innen einer (Selbsthilfe-) Gruppe: Ein Stuhl liest, ist eifrig, ein anderer hat seine Arme verschüchtert hinter dem Rücken verschränkt, wieder ein anderer hat seine Arme cholerisch in die Höhe gestreckt.

Was bei all dem auffällt, ist Kot’átkovás Fähigkeit, trotz weniger Attribute, vor allem also durch Materialwahl und Verortung im Raum, nicht nur Körperlichkeit und sogar Anatomie zu evozieren, sondern obendrein die herrschenden gesellschaftlichen Repressalien darzustellen, die sie umgeben. Den Wahnsinn in der Welt, der schon die Dadaist*innen Kunst hat machen lassen.

Eva Kot’átková „In The Body Of A Fish Out Of Water“bis 09.02., Kestnergesellschaft kestnergesellschaft.de

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

Protokoll: Josephine Papke

Patti Smith ist eine Person, die uns fasziniert und uns mit ihrer Musik schon lange beglei- tet. Ihre Haltung zur Kunst und ihr Umgang mit Poesie ist einzigartig. Patti ist in den Siebzigern bekannt geworden und hat die Punkszene in New York ordentlich aufgemischt. Auch wenn sie sich nie konkret selbst so bezeichnet oder positioniert hat, sind ihre Performances queer und brechen Geschlechterklischees. Sie trägt auf der Bühne T-Shirts im Schlabberlook und schert sich nicht viel um den Faktor Glamour. Das ist natürlich ge- nauso ein gewolltes Konzept wie Glamour, aber es ist ein lässiges.

Missy Magazine 01/20, Noe&Then, Jolly Goods
©Selfiestick

Patti singt kraftvoll und ihre Stimme sitzt weit vorne. Auf der Bühne schleudert sie ihren Gesang bis in die letzte Ecke. Es ist kaum möglich, sich ihrer Energie zu entziehen. Ihre erste Single-Auskopplung „Piss Factory“ aus dem Jahr 1974 besteht nur aus Klavier, Gitarre und Sprechgesang. Die Lyrics sind so stark und klar, dass wir jedes Mal Gänsehaut bekommen. „I will never return to burn out in this piss factory / And I will travel light / Watch me now“, schnauzt sie ins Mikrofon. Patti ist die erste Punkkünstlerin, die Poesie auf diese Art und Weise mit Musik verschmolzen hat.

Sie nahm sich Auszeiten, um einige Jahre einfach gar nichts Musikbusiness related zu machen. Sich das ab und an vor Augen zu führen, ist auch für uns wertvoll – niemand kann oder sollte ständig für ein System funktionieren. Einfach mal an die Wand starren kann durchaus viel Spaß machen. Aber auch Musik machen: So haben wir uns für die Produktion unseres neuen Albums „Slowlife“ keine Deadline gesetzt und uns überall rausgezogen. Über fünf Jahre lang nahmen wir, entspannt und ohne Einfluss von außen, in unserem Studiokeller die Songs auf. Dadurch ist eine für uns besondere und detailverliebte Platte entstanden.

Für Patti ist Musik eine Leidenschaft, ein Lebensentwurf, eine Philosophie. Sie schreibt Gedichte und Bücher über andere Künstler*innen oder reist in Städte, in denen Künstler*innen leben und lebten, von denen sie fasziniert ist. In einem Interview erzählt sie von einem Rat, den sie von ihrem Freund William S. Burroughs bekam: „Build a good name, keep your name clean, don’t make compromises, don’t worry about making a bunch of money or being successful. Be concerned with doing good work and make the right choices and protect your work. And if you build a good name, eventually, that name will be its own currency. To be a human being in these times, it’s all difficult.“

Die Geschwister Tanno Pippi und Angy Lord machen
seit 16 Jahren als Jolly Goods gemeinsam Musik und haben gerade ihr drittes Album „Slowlife“ veröffentlicht. Auf „Slowlife“ twisten sie den Fluch aus Machtstrukturen, Traumata, Leistungsdruck und Wut mit sonnendurchflutetem Pop.

Patti Smith ist Punk- und Rockmusikerin, Lyrikerin
und Fotografin. Sie verbindet auf besondere Weise Rock
und Dichtung miteinander. Ihr erstes Album „Horses“ mit einem Coverfoto von Robert Mapplethorpe ist in die Musikgeschichte eingegangen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

Von Christian Schmacht

In Australien brennt es. Die Influencerin Kaylen Ward wollte nicht tatenlos zusehen und bot ihren Twitter-Follower*innen an, im Austausch für Spendenbelege ab einer Höhe von zehn Dollar an Organisationen wie das australische Rote Kreuz oder an das Koala-Krankenhaus ein Nacktfoto von sich zu schicken. Die Spendenaktion ging viral und Ward gab an, mit ihrem nackten Körper eine ganze Million gesammelt zu haben. Ein toller Erfolg, den jedoch nicht alle gleichermaßen feiern wollten.  Neben Backlash, übergriffigen Nachrichten und Stress mit ihren Eltern suspendierte auch noch Instagram alle drei Accounts, die Ward betrieb – obwohl die Aktion lediglich auf Twitter lief. Angeblich habe ihr Verhalten auf Twitter die Richtlinien für Sexualität, welche für Instagram gelten, verletzt.

©Tine Fetz

Noch frecher nimmt sich die Plattform AirBnB heraus, ihre Nutzer*innen moralisch zu bewerten: Anfang des Monats kam heraus, dass AirBnB ein Programm entwickelt hat, welches die Onlinepräsenzen potenzieller Mietgäste überprüfen soll. Neben Persönlichkeitsdiagnosen („Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie“) können auch Punkte verteilt werden, wobei Nutzer*innen, welche auf Fotos mit Drogen, Alkohol und natürlich mit Sexarbeit assoziiert werden, niedrig bewertet werden. Sexarbeiter*innen erfahren schon länger Diskriminierung durch AirBnB, doch diese hat ein neues Ausmaß angenommen. So berichten Pornodarsteller*innen, dass ihre privaten Accounts auf der Plattform gesperrt wurden, obwohl es sich beim Mitwirken in Pornos um eine Form der Sexarbeit handelt, die selbst in den USA legalisiert ist.

Viele von uns Social-Media-Liebhaber*innen sehen unsere politische Tätigkeit im sogenannten Cyberspace verortet, so hieß die weite Welt des Internets in den Jugendromanen meiner Teenagerzeit. Wir diskutieren, agitieren, bilden uns und starten politische Aktionen online. Diskriminierung, gezielte Kampagnen von verbaler Gewalt, Drohungen und Doxxing, vor welchen uns Plattformen wie Twitter nicht schützen wollen, sind Formen der Kontrolle, die andere User*innen auf uns ausüben. Doch auch die Plattformen selber kontrollieren unser Verhalten. Wie ein konservativer, pädagogischer Auftrag legen sich Regelungen zu Sexualität und Körpern über unseren Output. 

Sexarbeiter*innen haben viele Trends und Neuentwicklungen, die in Popkultur und Vanilla Mainstream übergingen, erfunden oder sie als Erste beschritten. Ein Beispiel ist die JenniCam, mit der Jennifer Ringley von 1996 bis 2003 Bilder aus ihrem Schlafzimmer ins Internet übertrug. Als Vorläuferin späterer Camgirls gelang es ihr, mit Bezahlzugängen für Fans, ein Einkommen aus dieser Liveübertragung zu generieren. Die JenniCam ging offline, als PayPal 2003 Ringleys Account sperrte, da Einkünfte aus dem Verkauf von Nacktbildern nicht mehr geduldet wurden. Big Brother, familienfreundlichere und international zum Kult gewordene TV-Version der JenniCam, erblickte 1997 das Licht der Welt und kam erst im Jahr 2000 ins deutsche Fernsehen und in mein Teenagerleben. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Künstlerin und Cam-Performerin Ringley längst neue Debatten um Technologie und Geschlecht angestoßen. 

Avantgardist*innen wie Jennifer Ringley sowie Wald-und-Wiesen-Sexarbeiter*innen heute werden vom Cyberspace betrogen. Plattformen, die ohne uns keine Bedeutung erlangt hätten, kicken uns raus, nur um dann selbst zurück in die Versenkung zu fallen. So geschehen mit Tumblr – ohne Pornos verlor die einst ikonische Plattform 30 Prozent ihres Traffics. Auch Banken und Bezahlsysteme lassen uns fallen, wenn sie mitkriegen, woher unsere Einnahmen wirklich gekommen sind. Haben wir Pech, behalten sie auch noch unsere Kohle ein.

Wir haben nicht nur bei den Trends die Nase vorn, sondern leider auch beim Thema Unterdrückung. So hatte FOSTA/SESTA, ein explizit auf Internetpräsenzen von Sexarbeiter*innen und zum Austausch über Sexarbeit ausgelegtes Gesetz in den USA seit seiner Einführung schon zu viele Sexarbeiter*innen auf dem Gewissen. Vorgeblich um das sogenannte Trafficking zu bekämpfen, zwang es die bereits illegalisierten Arbeiter*innen, im US-Kontext noch unsicherer und gefährlicher zu arbeiten. Wie viele Gewalttäter*innen dadurch einfacheren Zugang zu Sexarbeiter*innen bekommen haben, wie viele schon ermordet worden sind, wissen wir nicht genau.

Als Kanarienvögel der gesellschaftlichen Stimmung merken wir früh, wenn die Luft dünn wird. Sexarbeiter*innen bringen einander bei, wie wir uns online im „Closet“, also ungeoutet, bewegen können und dennoch unsere Dienste an den Menschen bringen können. Abschaffen oder verbieten kann uns niemand. Doch selbst für die Rettung der Koalabärchen ist unser Geld zu schmutzig.

Kaylen Ward war mit ihrem Körpereinsatz für die australische Brandkatastrophe natürlich nicht die Erste, die mit Sexarbeit der Welt etwas Gutes tat. Die gleiche Aktion führten ich und eine weitere trans Sexarbeiterin (wir waren natürlich auch nicht die Ersten!) im Herbst 2019 durch. Wir verlangten von unseren durstigen Fans Spendenbelege für den kurdischen Roten Halbmond und ähnliche Organisationen, die die Befreiungsbewegung in Rojava z. B. mit medizinischer Hilfe versorgten. Wir bekamen über 600 Euro zusammen und entgingen der Sperrung. Vielleicht, weil ich kein aktives Instagramprofil habe oder vielleicht, weil wir nicht viral gingen wie Ward. Kurdische Twitteraccounts wiederum, die sich türkeikritisch äußerten oder über den Krieg Bericht erstatteten, sahen sich Sperrungen und Shadowbans ausgesetzt, ohne irgendwas mit Sexarbeit am Hut zu haben. Twitter nahm auch hier die Seite der Mächtigen ein und ließ nationalistische Accounts in Ruhe.

Wir lernen daraus ein ums andere Mal: Plattformen, die nicht in unserer Hand sind, haben uns in der Hand. 

Interview: Anna Opel
Fotos: Juliette Moarbes

Ihr inszeniert in dieser Spielzeit beide an der Volksbühne. Wie habt ihr euch kennengelernt?
Pınar Karabulut: Während meiner Proben zu „Die Hand ist ein einsamer Jäger“ von Katja Brunner im Mai letzten Jahres war Lucia auch gerade im Haus. Mich hat ihre Meinung als Regisseurin interessiert, da habe ich sie zu einer Probe eingeladen. Ich freue mich immer, wenn mir andere Künstler*innen ihre Lesarten beschreiben. Das wünsche ich mir generell mehr für den Theaterbetrieb: mit offenen Türen zu probieren.
Lucia Bihler: Ich hatte zu der Zeit gerade das Angebot erhalten, als Regisseurin fest ans Haus zu kommen. Über Pınars Einladung habe ich mich sehr gefreut, weil ich das selbst mit Kolleg*innen an den jeweiligen Häusern und mit befreundeten Künstler*innen praktiziere. Kritik ist für mich ein wichtiger Bestandteil der Arbeit am Theater.

Kulturstory, Volksbühne, Missy Magazine 01/20
©Juliette Moarbes

Wie geht es euch an der Volksbühne? Wirkt der Castorf-Spirit noch nach?
PK: Ich fühle mich hier sehr wohl. Es herrscht ein positiver Spirit. Gewerke, Technik und

Kunst begegnen sich mit Respekt. Zu meiner Konzeptionsprobe, zu der an anderen Häusern nur die direkt Beteiligten einer Produktion kommen, kamen hier Vertreter*innen aus allen Abteilungen. Das waren fast sechzig Leute.
LB: Das Haus befindet sich weiterhin im Umbruch, das ist eine tolle Zeit: Wir agieren aktuell unter dem Radar, bis Pollesch 2021 die Intendanz übernimmt. Es gibt wenig Druck, dafür Freiräume, guten Kontakt zu den Kolleg*innen. Ich kann mich auf meine Arbeit als Künstlerin konzentrieren.

Lucia, was bedeutet es konkret, dass du Teil der Leitung bist?
LB: Für mich heißt das erst mal, dass ich die Strukturen besser kennenlerne und damit größere Chancen habe, etwas zu verändern. Als Hausregisseurin kann ich mir anders Gehör verschaffen, Vorschläge einbringen und Fragen stellen: Welche Inhalte verhandeln wir? Wie kommunizieren wir miteinander? Wie können wir an unseren blinden Flecken arbeiten?

Die eigene Handschrift entwickeln, sie durchsetzen, das erfordert Entschlossenheit. #MeToo hat gezeigt, dass das in der Kunst oft mit Übergriffen einhergeht. Muss das so sein?
LB: Ich kenne genug Künstler*innen, die starke Handschriften haben und weder ihre Macht missbrauchen noch ihr Team schlecht behandeln. Wenn ich ein bestimmtes Energielevel auf der Probe brauche, kann ich das auch anders herstellen als über Druck. Kunst muss übrigens auch nicht aus Leid entspringen. Der Teamspirit ist am Theater extrem wichtig, und der entsteht zuerst über gemeinsames inhaltliches Denken. Der Probenprozess ist für mich dann gelungen, wenn sich alle künstlerisch verantwortlich fühlen können.
PK: Ältere weiße Kollegen haben mir öfter geraten, ich müsse mit Schauspieler*innen den Konflikt suchen, um auf der Probe alles aus ihnen rauszuholen. Das sind dieselben Kollegen, die nicht an die Intelligenz der Spieler*innen glauben. Da gehört das Runtermachen zum Handwerk. Das interessiert mich aber nicht. Ich besetze Leute, weil ich mich für ihre Fantasie, ihren Intellekt interessiere, nicht, um mit ihnen in einen Konflikt zu gehen.

Die Debatte um feudale Theaterstrukturen wurde im Rahmen von #MeToo geführt. Hat sich aus eurer Sicht an der Stelle substanziell etwas getan?
LB: Spürbar ist, dass die Theater nicht mehr darum herumkommen, sich zu verhalten. Der Gleichstellungsdiskurs wird geführt, er schließt viele Punkte ein: Inhalte, aber auch Regiequoten, Bezahlung, Arbeitsbedingungen, alles das. Problematisch ist, dass diese wichtigen Impulse gern als Trendthema gehandelt werden und nur temporär und oberflächlich angegangen werden. Es ist wichtig, dass wir da dranbleiben!

Was war der Auslöser dafür, dass Bewegung ins System gekommen ist?
LB: Ein Anfang war, als Lisa Jopt und Johanna Lücke 2015 das ensemble-netzwerk gründeten. Sie haben auf strukturelle Benachteiligungen am Theater aufmerksam gemacht: Schauspieler*innen forderten bessere Arbeitsbedingungen, mehr Rücksicht auf Familien, gleiche Bezahlung von Männern und Frauen. Sie machten die prekären Zustände in der Branche publik. Seitdem ist viel passiert, z. B. die Antidiskriminierungsklausel oder die Plattform Themis.

Was muss sich am Theater ändern?
PK: Das Theater muss sich durchsetzen gegenüber den überwiegend männlichen Kulturdezernent*innen. Es sitzen weiterhin zu wenige Frauen in Leitungspositionen. Oft müssen sich Regisseurinnen zuerst auf der kleinen Bühne beweisen, während ihre männlichen Kollegen sofort auf großen Bühnen inszenieren dürfen. Die große Bühne ist sehr wichtig für die künstlerische Entwicklung, für die Karriere, für das Standing. Ändern sollte sich auch die Ungleichheit in der Bezahlung. Der Gender Pay Gap wird zu wenig beachtet. Das, was an den Häusern aktuell passiert, ist ein Ein-Meter- Feminismus: kurz gedacht und halbherzig. Wo Privilegien geteilt werden sollen, hört der Spaß für die Privilegierten auf.

Die Leitung des Theatertreffens hat für 2020 und 2021 eine Fünfzig-Prozent-Quote für die Regieposition beschlossen.
PK: Das ist ein guter Schritt, um Awareness zu schaffen. Die Longlists der vergangenen Jahre zeigen, dass die Jury immer wieder die üblichen Verdächtigen anschaut. Die neue Quote erinnert mich an die Radikalität, mit der Shermin Langhoff die Intendanz am Maxim Gorki Theater angetreten ist. Sie hat sich für bestimmte Regisseur*innen entschieden, für ein diverses Ensemble, für andere Geschichten. Das hat auf die Theaterarbeit im gesamten deutschsprachigen Raum gewirkt. Wenn die Entscheidung für die Quote ähnlich wirken würde, wäre das toll.
LB: Ich bin gespannt, was passieren wird. Ganz sicher wird es Polemiken geben, welche Künstlerinnen jetzt nur aufgrund der Quote eingeladen wurden – diese Scheindebatten kennen wir alle. Wir brauchen die Quote, um auszugleichen, was bisher unfair lief. Außerdem fordere ich, dass auch Frauen scheitern dürfen. Warum müssen wir Frauen immer alles richtig machen? Aus diesen Schubladen müssen wir raus. Ich fordere Gleichbehandlung in allen Belangen.

Welche künstlerischen Mittel seht ihr, feministische Fragestellungen in die Arbeit hineinzutragen?
PK: Geschlechterzuschreibungen auflösen, das ist für mich im Theater eine künstlerische Aufgabenstellung. Als ich beispielsweise am Volkstheater Wien „Endstation Sehnsucht“ probte, haben wir New Orleans, wo das Stück spielt, als genderfluide Welt aufgefasst. Ein cis Mann spielte Stanley Kowalski mit enger Hose, Pumps, geschminkt und mit kurzen blonden Haaren. In meiner Inszenierung „Bunbury“ von Oscar Wilde verwenden wir nur weibliche Pronomen und erweitern somit den Raum für diverse Formen von Weiblichkeit. Als Regisseurin versuche ich, Klischees umzuformen oder zu dekonstruieren. Wir brauchen viel mehr Offenheit, was das angeht.
LB: Ich habe eine große künstlerische Sehnsucht nach andersartigen Wesen, das können abgründige, weirde Existenzen sein, bei denen die Geschlechterfrage nicht im Vordergrund steht. Bei den Proben zu „FINAL FANTASY“ ist das zentral. Das Stück bezieht sich auf Oscar Wildes „Salome“. Das ist ein queerer Stoff, der auch Homoerotik beinhaltet und eine Frau ins Zentrum stellt, die öffentlich und selbstbewusst ihr Begehren formuliert. Ich habe den Stoff in eine Alien-Welt übertragen. Die Alien-Wesen spielen dieses Stück „Salome“ als Ritual. Sie haben Distanz und damit einen freien Blick auf die Geschlechterstrukturen, die der Text verhandelt. Wir arbeiten mit Stimmverzerrungen und Cross-Besetzung. Die Aliens haben verformte Körper, vergrößerte Gelenke, die ihre erogenen Zonen sind. Dieser Abstand zur Realität ist befreiend.

„FINAL FANTASY“ (R: Lucia Bihler)
ist am 21./22./25./26.01., „Mamma Medea“ von Tom Lanoye (R: Pınar Karabulut)
 ist am 27./28./29.02. im 3. Stock der Volksbühne Berlin zu sehen. volksbuehne.berlin

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/20.

Von Friederike Mehl

Letzte Nacht von Dingen geträumt, die ich lieber aus dem Wege geräumt …“ Mit diesen Worten beginnt Anke Feuchtenbergers Comicband „Somnambule“. In schwarz-weißen Buntstiftzeichnungen fast ohne Text bewegen sich Frauenfiguren und Tierwesen durch skurrile Traumepisoden. Häsinnen fallen aus Fenstern. Türen wollen sich nicht schließen lassen. Monde werden aus dem Himmel gerissen. Die kurzen Bildgeschichten verwirren

durch seltsame Ereignisse und absurde Wendungen. Allein der Buchtitel – zu Deutsch „Schlafwandler*in“ – bietet Orientierung. „Ich wollte etwas über die Unmöglichkeit erzählen, den Schlaf der Logik unterzuordnen“, so Feuchtenberger, die bis in ihre Zwanziger geschlafwandelt hat, in einem Interview. Für sie stehe das Zeichnen als „eine körperliche Aktivität, in die das Unbewusste eindringt“, in enger Verbindung mit Träumen.

Literaturaufmacher; Missy Magazine 06/19,
©Julia-Steinigeweg

Der Band erschien erstmals 1998 und wird nun von Reprodukt neu aufgelegt. Verlagsinhaber Dirk Rehm macht damit ein Frühwerk Feuchtenbergers wieder erhältlich, die für ihn eine „Vorreiterin der Welle feministischer Comics“ ist. Wenn feministische Themen auch nicht so präsent sind wie etwa in ihrer Comicreihe „Hure H“, umkreist „Somnambule“ doch einschlägige Motive wie Begehren und Angst, Körperlichkeit und Selbstbehauptung. Dass sie einmal Vorbild sein würde, hätte sich die Künstlerin zu Beginn ihres Schaffens wohl nicht träumen lassen. In einem Gespräch mit dem Sender Deutschlandfunk Kultur gab sie an, erst spät zum Comic gekommen zu sein: „Ich hab mit 27, das war also ein, zwei Jahre nach Maueröffnung, überhaupt erst Comics in der Hand gehabt.“

Seit 1997 ist Feuchtenberger Professorin für Illustration an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Von dort aus füttert sie regelmäßig neues Talent in die Comicsphäre, etwa die Künstlerinnen Line Hoven, Birgit Weyhe oder Magdalena Kaszuba. Gleichzeitig schafft sie selbst in hohem Tempo neue Werke. Seit acht Jahren arbeitet Feuchtenberger zudem an dem Buch „Ein deutsches Tier im deutschen Wald“, das 2020 erscheinen soll. Auch hier mutet der Plot absurd an. Es geht um Renaturierung, Rache und Mecklenburg-Vorpommern. Wer „Somnambule“ mag, kann sich auf weitere schlaflose Nächte freuen.

Anke Feuchtenberger „Somnambule“ Reprodukt, 120 S., 18 Euro

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

Von Julian Volz

Das Jahr 1972 muss aufregend gewesen sein für Guy Hocquenghem. Nachdem er der radikalen Pariser Homosexuellengruppe Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR) kurz nach ihrer Gründung beigetreten war, machte er in der Zeitschrift „Le Nouvel Observateur“ seine Homosexualität öffentlich. So avancierte er schlagartig zum Gesicht der neulinken französischen Schwulenbewegung. Zudem publizierte er 1972 – mit gerade einmal 25 Jahren – sein erstes Buch „Das homosexuelle Begehren“.

Typenparade,Der geschlechtslose Anus, Missy Magazine 06/19
©unbekannt

Dass das Buch auch heute noch wichtige Argumente im Kampf gegen Homonormativität, Familienideologie und Zweigeschlechtlichkeit liefert, davon kann man sich nun dank seiner deutschen Neuauflage selbst überzeugen. Begleitet wird sie von einem umfangreichen Essay der beiden Herausgeber, der auf die Aktualität Hocquenghems eingeht. Hocquenghem

zeichnet in seinem Buch nach, wie (homosexuelles) Begehren im Zuge der Herausbildung des Kapitalismus ödipalisiert und dadurch in eine perverse Homosexualität umgewandelt wurde. Eine herausragende Bedeutung spielten bei diesem Prozess die Justiz und die Psychoanalyse. Erstere machte aus der Homosexualität eine zu bestrafende Kategorie, während Zweitere bei der Verinnerlichung dieser „Schuld“ half und das Begehren den ödipal-familiären Kategorien unterwarf. Wenn die Homosexualität aber als ein Produkt der Repression begriffen wird, dann bewegt sich der Kampf um ihre Anerkennung innerhalb der Logik einer familiär- ödipalen Gesellschaft. Hocquenghem stellt dem den homosexuellen Kampf um die Zersetzung aller sexuellen und geschlechtlichen Normen entgegen. Eine besondere Bedeutung misst er dabei dem Anus zu. Denn dieser kenne keine Geschlechtsunterschiede und fordere somit den patriarchalen Phallus heraus. Die von Hocquenghem geforderte libidinöse Besetzung des Anus durch die Homosexuellenbewegung untergrabe die Macht des Patriarchats. Durch diese Politisierung des Privatesten stellte Hocquenghem ebenso wie die feministischen Bewegungen der 1970er-Jahre die althergebrachten Trennungen von Privatheit und Öffentlichkeit infrage. Das sich zwischen Polemik und Theorie bewegende Buch ist ein wichtiger Vorläufer der Queer Theory und in Zeiten von Homoehe, Jens Spahn und Alice Weidel eine heilsame Lektüre.

Guy Hocquenghem „Das homosexuelleBegehren“ Edition Nautilus, 200 S., 18 Euro

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

Von David Doell
Illustration: Katja Grosskinsky

Depressionen sind nach wie vor eine wenig berücksichtigte gesellschaftliche Realität, die Leben zerstört. Depressive Erkrankungen sind in Deutschland eine der häufigsten Todesursachen. Es wird geschätzt, dass mindestens die Hälfte aller Menschen, die sich suizidieren, an Depressionen leidet, nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe waren es 2015 etwa 5000 Personen.

Sexttext; Depression; Missy Magazine06/19
©Katja Grosskinsky

Trotz rund fünf Millionen Betroffener in Deutschland werden Depressionen jedoch meist als individuelles Schicksal angesehen. Was aber, wenn Depressionen stattdessen eher Ausdruck einer spezifischen Ausbeutung und Subjektivierung im westlichen Spätkapitalismus sind, die nicht naturgegeben ist? Müssten wir dann nicht vielmehr einen kollektiven Kampf gegen Depressionen und ihre Bedingungen führen? Doch was ist eine Depression überhaupt? Es gibt vielfältige Ausprägungen von depressiven Erkrankungen, sowohl was die Dauer einer depressiven Episode als auch deren Intensität und Symptome

anbelangt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gibt drei Hauptsymptome an: Stimmungseinengung bis zu einem Gefühl der Gefühllosigkeit, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit. Als weitere Symptome gelten: verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle von Minderwertigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken oder -handlungen, Schlafstörungen und verminderter Appetit.

Wir* möchten mit dieser Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern nur einen kleinen Überblick auf das teilweise undurchdringliche Labyrinth des depressiven Lebens geben. Für uns dauert eine schwere depressive Episode in etwa sechs bis acht Monate, in denen alle diese Symptome auftreten. Wir haben zum Teil bereits morgens Suizidgedanken, ein Gefühl von Körpererschöpfung und Entfremdung. Jeder Schritt kann unglaublich viel Kraft kosten und wehtun. Das Überleben scheint unmöglich. Wichtig ist, zu verstehen, dass Depressionen nichts über den Charakter einer Person aussagen. Wir würden uns z. B. als fröhliche und optimistische Person verstehen, die trotz allem gerne lebt. Depressive Personen sind auch nicht „schwach“, es fehlt ihnen nicht schlicht an „Willenskraft“. Eine Depression „pulverisiert“ viel eher den Charakter einer Person und gibt sich als diese aus. Eine der bekanntesten popkulturellen Allegorien dafür ist die Figur des Dementors in „Harry Potter“, die einer Person jegliche Freude und Lebenskraft nimmt und sie beständig mit ihren quälendsten Erfahrungen konfrontiert.

Während der Dementor im Harry-Potter-Universum ein äußeres Abbild der Depression ist, gibt es diesen Gegner, der mit einem Zauberspruch besiegt werden kann, in der kapitalistischen Gegenwart nicht. Die Depression findet im depressiven Subjekt statt; sie ist für die Mehrheitsgesellschaft nicht sichtbar und oft nicht verständlich. Sie bringt De- pressive in der Wechselwirkung von Depression im Inneren und gesellschaftlichem Druck von außen (der Mythos: „Du musst dich nur mehr bemühen“) zum Versagen. Depression und Druck von außen sind dabei nicht voneinander unabhängig, sondern zwei Seiten einer Medaille. Diese Medaille ist im Kern die Ideologie des neoliberalen Spätkapitalismus, in dem es „so etwas wie Gesellschaft nicht gibt“ (Margaret Thatcher, 1987) und die*der Einzelne*r alles alleine leisten soll. Während sich familiäre und traditionelle Beziehungen auflösen, schlägt der objektive Konkurrenzdruck in das Subjekt durch.

Was ist die materielle Basis des neoliberalen Kapitalismus? Grob skizziert bildete sich ab den 1970er-Jahren ein neues, sogenanntes postfordistisches Akkumulationsregime aus, das mehr auf die kreative Leistung der*des Einzelnen aufbaut als auf dem mechanischen Gehorsam der fordistischen Fabrik. Diese verschwindet nicht, wird aber teilweise in die kapitalistische Peripherie ausgelagert. T-Shirts und MacBooks werden in Bangladesch und China hergestellt, die Marketingstrategien für ihren Verkauf in westlichen Unternehmen erstellt. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Lohnarbeitsverhältnisse im Westen „angenehmer“ geworden wären. Im Gegenteil gibt es neben den Büros der selbstausbeuterischen Start-up-Szene und dem sogenannten Normal-Arbeitsverhältnis zunehmend prekäre Lohnarbeitsverhältnisse und Scheinselbstständigkeiten, die den gesetzlichen Mindestlohn aushebeln. In Deutschland ist dieser gesellschaftliche Wandel realpolitisch untrennbar mit der Sozialpolitik der SPD, Hartz IV und der Agenda 2010, die Einzelne disziplinieren sollte, verbunden.

Während individuelle Leistung – nach dem Motto „vom Tellerwäscher zum Millionär“ – zum Fetisch des Spätkapitalismus geworden ist, ist die Depression immer noch gesellschaftlich stigmatisiert und schambehaftet. Die depressive Person hat implizit etwas falsch gemacht, sie leistet nicht genug, ist für den Arbeitsmarkt weniger „verwertbar“, also gesellschaftlich weniger „wertvoll“. Die Beurteilung von Menschen nach ihren Abilities konstituiert das gesellschaftliche Verhältnis von „ableisiert“ und „be_hindert“. Ableismus bezeichnet die Gewalt und Diskriminierung der Mehrheitsgesellschaft gegen Menschen mit physischen und psychischen Be_hinderungen. Im Fall der Depression äußert sich der Ableismus wie oben schon angeführt durch ein Narrativ, das der*dem Einzelnen Schuld zuspricht, sich nicht genug bemüht zu haben. Dieses Narrativ ist teilweise so wirkmächtig, dass auch langjährig depressive Personen wie der Schriftsteller Mark Fisher immer wieder von internalisiertem Ableismus überzeugt werden, dass sie gar nicht depressiv seien und sich nur selbst bemitleiden würden: „Depressionen werden teilweise von einer höhnischen ,inneren‘ Stimme erzeugt, die dich anklagt, nur zu nachgiebig zu sein – ‚du bist nicht depressiv, du bemitleidest dich nur selbst, reiß dich zusammen‘ –, und diese Stimme ist anfällig, davon getriggered zu werden, dass du öffentlich über deine Situation sprichst. Natürlich ist diese Stimme überhaupt keine ,innere‘ – es ist der internalisierte Ausdruck tatsächlicher sozialer Kräfteverhältnisse, von denen manche ein Interesse daran haben, jede Verbindung von Depression und Politik zu leugnen.“

Die von Fisher so bezeichneten „soziale(n) Kräfteverhältnisse“ betreffen nicht nur Lohnar- beitsverhältnisse, sondern auch linke Communitys, in denen sich in aktivistischen Kontexten die Leistungsideologie der Gesamtgesellschaft spiegelt. Depressionen wird u. a. mit Unverständnis, Ausschlüssen und Isolation begegnet. Oftmals ist dafür gar nicht mehr nötig, als dass die ableisierte Mehrheit nicht auf unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten Rücksicht nimmt. Man ignoriert die Probleme, die man selbst nicht hat. Für Depressive kann dadurch eine Vielfachbelastung entstehen. Denn sie müssen gegebenenfalls nicht nur mehr Kraft für Lohn- und Reproduktionsarbeit aufbringen, sondern zusätzlich gegen Ableismus auch in linken Communitys kämpfen. Unserem Eindruck nach wäre es deswegen einen Versuch wert, Depressionen zu politisieren und Räume für depressive Identitätspolitik zu schaffen. Was ist an gegenseitiger emotionaler, finanzieller und organisatorischer Unterstützung nötig und möglich? Was wären Forderungen für eine revolutionäre depressive Care-Politik? Natürlich wäre es wünschenswert, wenn auch Nicht-Depressive depressiven Personen mehr Solidarität zuteilwerden lassen. Das Problem mit dieser Solidarität ist allerdings wie bei anderen gesellschaftlichen Kämpfen auch, dass zwischen einer ableisierten Person und einer depressiven Person starke Machtungleichheiten bestehen können. Immer wieder seine Position erklären zu müssen und immer wieder nicht verstanden zu werden oder im kritischen Moment doch im Stich gelassen zu werden.

Gegenwärtig gibt es viele Angriffe auf sogenannte Identitätspolitiken, sie würden die Linke spalten oder wären nicht materialistisch genug ausgerichtet. An depressiver Identitätspolitik kann man nachvollziehen, wie albern diese Vorwürfe zum Teil sind. Depressive Identitätspolitik zu machen, heißt erst einmal nur, dass Depressive spezifische gemeinsame Probleme und Interessen haben, die teilweise noch gar nicht verstanden werden. Depressive aus der Arbeiter*innenklasse sind oftmals von mehreren Ausbeutungs- und Diskriminierungserfahrungen betroffen. Depressive Identitätspolitik ist nicht das Andere der Klassenpolitik, sondern Depressionen und Ableismus sind Formen, in denen Depressive ihre Klassenerfahrungen machen.

„Aber was ihr macht, ist kein Aktivismus“, könnte jetzt als Vorwurf von einigen linken Twit- ter-Accounts kommen. Ehrlich gesagt sind wir gerne bereit, den Begriff Aktivismus aufzugeben, wenn anderen daran viel liegt, dass Demo, ziviler Ungehorsam und Streik als solcher gelten, sich um das Überleben von Genoss*innen zu sorgen aber nicht. Im Hintergrund dieses Vorwurfs steht allerdings eine Abwertung von Reproduktionsarbeit, die der gesellschaftlichen Geringschätzung entspricht. Es wirkt teilweise so, als wäre der Vorwurf „das ist kein Aktivismus“ der Spiegel und die Verlängerung vom gesell- schaftlichen „du musst dich nur anstrengen“. Denn wenn privat und individuell alle Leistung erbringen würden, bräuchte sich der heroische Klassenkampf von ableisierten Personen nicht mit Care-Fragen aufhalten.

Sollte Aktivismus nun so aussehen, dass die politische Arbeitskraft als gegeben angenom- men wird und vor allem diejenigen politische Arbeit machen, die sich in der Gesellschaft ohnehin gut behaupten können? Oder bräuchte es nicht viel eher auch Care-Communitys, die gemeinsam versuchen, die Reproduktion aller zu sichern? In der Realität gibt es zwar keinen Zauberspruch, aber der Horizont der Care- Revolution, der durch gegenseitige Sorge im Hier und Jetzt schon sichtbar werden kann, wirkt vielleicht auch wie ein kleiner Patronus.

*Das „Wir“ verweist auf Traumaerfahrungen und Dissoziationen des*der Autor*in.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

Von Josephine Apraku

Ja, ich weiß, zuerst schreibe ich, dass ich keine Neujahrsvorsätze mag, und dann gibt es gleich zwei Kolumnen mit Vorsätzen. Ich möchte aber anbringen: Es sind ja nicht die gängigen Vorsätze, sondern feministische Elternvorsätze, die mich persönlich zur Selbstreflexion inspirieren – nur deshalb ist das in Ordnung!
Ein weiterer Vorsatz von mir ist übrigens, mich vertieft mit Adultismus zu beschäftigen und meinen eigenen Adultismus zu reflektieren. Erwachsene sind Kindern und jungen Menschen gegenüber erschreckend übergriffig und unterdrückerisch – ich möchte so als Mama nicht sein. Ich betrachte Liebe – auch die zu meinem Kind – als widerständige Praxis. Deshalb möchte ich in meiner Beziehung zum Kind eine adultismuskritische Haltung entwickeln und diese als festen Bestandteil meiner Beziehungsarbeit begreifen und leben.

©Tine Fetz

Ich will bewusst auf mein Bauchgefühl hören, um meine Beziehung zu meinem Baby zu definieren und zu leben. Mich gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenzuschreibungen von einer selbstlosen und aufopferungsvollen guten Mutter widersetzen. Mich selbst stets daran erinnern, dass mein Kind neben mir ein weiteres Elternteil hat.
Jule Bönkost

Weiter hartnäckig für mehr Sichtbarkeit & Unterstützung von queeren alleinerziehenden Eltern und (ihren) Teenagern kämpfen. Elternschaft hört nicht auf, wenn die Kinder in die Schule kommen. Im Gegenteil. Eltern-Kind-Beziehungen werden komplexer und gerade auch durch die Schule oft gestört. Das aktuelle Schulsystem macht Kinder kaputt und muss mindestens diskriminierungskritisch überarbeitet und dekolonialisiert werden.
– Kristin, Kulturwissenschaftlerin, lone mylf & Mitbegründerin von brausemag.de

Ich werde Angst haben, gestresst sein und ziemlich sicher wird mir suggeriert werden, dass ich es doch anders, besser und noch selbstloser machen kann. Ich muss auch dann nicht perfekt sein, kann ich nämlich gar nicht. Ich und er wollen nur das Beste für den neuen Menschen. Wenn das bedeutet, dass ich den nächsten Arbeitsvertrag unterschreibe und er den Haushalt managt, dann ist das okay. Es ist okay.
Laura Kübke

Meine Tochter sagt über mich, „du bist mir ein Vorbild in Sachen Liebe und Wertschätzung gegenüber anderen Menschen“. Das möchte ich insbesondere mit Blick auf eine intersektionale feministische Perspektive weiterhin sein.
Melody Laverne Bettencourt, Schwarze Deutsche, bildende Künstlerin

Als Mutter einer 23-Jährigen ist mein Vorsatz fürs kommende Jahr noch besser zu realisieren, da meine Tochter kein Kind, sondern eine junge Frau ist. Ich nehme mir vor, ihr beizustehen, falls sie mich braucht, aber mich nicht aufzudrängen. Ich hoffe, es gelingt mir, Sachen, die sie anders macht, als ich es tun würde, unbewertet stehen zu lassen und mich daran zu erinnern, dass sie es schon richtig machen wird.
Nivedita, Mutter einer 23-Jährigen, Berlin

Im Bezug auf feministische Vorsätze würde ich sagen, dass ich ihnen weiterhin eine kritische Freundin und Mutter sein möchte. Sie auf ihrem Weg unterstütze, schwierige Entscheidungen selbstbewusst und unerschrocken zu treffen. Ich wünsche mir für sie vieles, aber im Wesentlichen, dass sie mit offenem Blick die Welt erleben. Weich und tough gleichzeitig sein können und in der Lage sind, über sich und die Beziehungen, die sie führen, nachzudenken und reden zu können.
Sandra lebt mit ihren Kindern in Bonn, ist Schwarze Aktivistin und Antidiskriminierungsberaterin

Mein Vorsatz für 2020 ist es, das Umfeld meines Sohnes, wie z. B. meinen Vater (Jahrgang 1948), dafür zu sensibilisieren, dass auf spezifische Geschlechterzuschreibungen in Form von farbcodierten (= blauen) Kleidungsstücken verzichtet werden soll.
Dies soll das binäre und hegemoniale (männliche) Geschlechterrollendenken bei unserem Sohn verhindern.
Shai Hoffmann, Sozialunternehmer und Aktivist

Ich möchte mich zuallererst und endlich kritisch mit meinem Männlich-Sozialisiertsein auseinandersetzen und mir meine Privilegien in einer patriarchalen Gesellschaft besser bewusst machen. So möchte ich einen Weg zum solidarischen Handeln in unterschiedlichen Lebensbereichen finden. Die gewonnenen Erkenntnisse möchte ich zum einen selbst nutzen und auch versuchen, an mein Kind heranzutragen.
Tobi, akademisierter Arbeitsloser und Papa

Mein Vorsatz ist, verstärkt Momente, Räume und Platz zu schaffen für feministische self-care. Nicht nur Zeit für mich, in denen ich es mir gut gehen lasse, sondern Zeit, die ich nutze, um mein Schwarzes feministisches Selbst – in genau dieser intersektionalen Verschränkung – zu stärken, zu nähren und zu feiern. Das können Gespräche, Bücher, Events, Retreats oder auch Demonstrationen sein.
Tupoka Ogette

Von Mithu Sanyal

Wer bei Radikalfeminismus denkt: „Was soll das denn sein? Ist Feminismus nicht immer radikal?“, liegt gar nicht so falsch. Vieles von dem, was wir mit dem Zweite-Welle-Feminismus (also grob gesprochen, dem Feminismus der 1960er/70er-Jahre) verbinden, geht auf Radikalfeministinnen zurück: consciousness raising groups (Selbsterfahrungsgruppen, um das „patriarchale“ Weltbild durch „feministisches“ Bewusstsein zu ersetzen), der Kampf um Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen und sogar der Slogan „Das Private ist politisch“! Aber auch die Vorstellung von Feministinnen als männerhassenden Lesben. So erklärte die US-amerikanische Radikalfeministin Robin Morgan Männerhass als politische Handlung, schließlich habe die im Patriarchat unterdrückte Klasse (Frauen) ein Recht auf Klassenhass gegen die sie unterdrückende Klasse (Männer). Und ein Zweig des Radikalfeminismus, nämlich der Radical Lesbianism, versuchte gegen die Heteronormativität (das heißt gegen die Vorstellung, dass Heterosexualität und nur Heterosexualität normal sei) anzugehen, indem seine Vertreterinnen ausschließlich Sex und Beziehungen mit Frauen hatten. Radikalfeminismus basiert auf der Überzeugung, dass soziale Ungleichheit vordringlich auf das Geschlechterverhältnis zurückzuführen sei, also auf die unterschiedlichen Geschlechterrollen, die es Männern erlaubten, Frauen zu unterdrücken und auszubeuten. Deshalb ging es Radikalfeministinnen nicht um gleiche Rechte für die Geschlechter, sondern darum, die Geschlechterrollen abzuschaffen.

Das hört sich jetzt nach einer unerheblichen Unterscheidung an, doch in der politischen Praxis führte es zu enormen Differenzen. Während liberale Feminist*innen daran arbeiteten, Gesetze zu verändern, und sozialistische Feminist*innen sich um Arbeit und die Klassenfrage kümmerten und Schwarze Feminist*innen auf den Anteil von Rassismen hinwiesen – sehr stark vereinfacht –, führten Radikalfeministinnen alles auf das Geschlecht zurück, und zwar auf das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht. Deshalb beschäftigten sie sich vordringlich mit dem Bereich der Sexualpolitik. 1968 schrieben die Proteste der New York Radical Women gegen die Miss-America-Wahlen Schlagzeilen. Dabei wurden entgegen dem Mythos keine BHs verbrannt, sondern ein BH zusammen mit High Heels, Kosmetika und anderen Symbolen klassischer „Weiblichkeit“ in die berühmte „Freedom Trash Can“ geworfen. Weitere prominente Proteste richteten sich gegen die Pornokinos am Times Square und allgemein gegen Pornografie als „Propaganda für das Patriarchat“ (so nannte es die Anti-Porno-Aktivistin Gail Dines) sowie gegen Sexarbeit, die Radikalfeministinnen als „bezahlte Vergewaltigung“ bezeichnen. Allerdings nicht alle! Genauso gehören Radikalfeministinnen zwar zu den wenigen feministischen Gruppen, die explizit trans Frauen ausgrenzen (mit der schwierigen Argumentation, trans Frauen seien als Jungen aufgewachsen und hätten durch diese männliche Sozialisation alle Privilegien). Doch argumentieren prominente Radikalfeministinnen wie Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon, dass das Konzept von Transidentität ganz im Gegenteil den patriarchalen Geschlechter-Essenzialismus zersetze und Geschlecht sowieso ein Konstrukt sei.

Außerdem gab und gibt es nach wie vor Radikalfeministinnen, die unter „radikal“ nichts dergleichen verstehen, sondern schlicht, dass sie grundlegende gesellschaftliche Veränderungen fordern. Ihr Motto: Wir wollen nicht die Hälfte des verschimmelten Kuchens, wir wollen die gesamte Bäckerei als feministisches Kollektiv führen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

Interview: Olja Alvir

Für deinen Film „Little Joe“ wollest du einen „female Frankenstein“ kreieren. Warum ist deine „Doktorin Frankenstein“ ausgerechnet eine Blumenzüchterin geworden?
Ich fragte mich, was meine Hauptfigur, die alleinerziehende Mutter und Wissenschaftlerin Alice, erfinden soll. Es sollte etwas Ambivalentes sein. Lange dachte ich an etwas, das Elektrosmog emittiert. Eine Idee war auch ein Apfel ohne Kerne – das würde ich mir ja immer wünschen –, aber da fehlt die Ambivalenz. In den Apfel muss man schließlich bewusst hineinbeißen. Den Duft einer Blume einzuatmen hingegen … Duft ist unsichtbar und die Vorgänge sind viel intransparenter. Es ist fragwürdiger, was passiert, wenn man den Duft inhaliert, und ob überhaupt etwas passiert. Das fand ich interessanter.

Missy Magazine 01/20, Kulturstory
©COOP99The Bureau Essential Films

Beinahe hätte ich eben von Rosen gesprochen, weil mich die Idee, dass eine Blume – und insbesondere auch die Zeit, die man ihrer Pflege schenkt – glücklich macht, an „Der kleine Prinz“ erinnert hat.
„You’ll love this plant like you love your own child“, sagt Alice zu Beginn. Das ist von Anfang an die Suggestion: Man muss sich kümmern, Verantwortung übernehmen, die Blume pflegen, und erst dadurch baut sich diese Bindung auf, die einen glücklich macht. Das wiederum ist eine Analogie zur Beziehung zwischen der Wissenschaftlerin und ihrem Kind. Diese Frau liebt ihren Sohn, aber sie liebt auch ihre Pflanze, ihre Arbeit.

Es wird zunehmend schmerzhafter zuzusehen, wie sich Mutter und Sohn voneinander entfernen.
Der Film spielt mit der Idee, dass durch den Duft der Pflanze die eigenen Gefühle plötzlich nicht mehr echt sind. Und daraus ergibt sich die Frage: Was ist überhaupt ein echtes Gefühl? Es geht vor allem um die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn. Doch besprochen wird auch das gesellschaftliche Mutterbild. Letztlich wird von Müttern immer noch erwartet, dass sie ihr Kind mehr lieben als alles andere, während Vätern zugetraut wird, sowohl Kinder als auch Arbeit zu lieben. Mir war wichtig zu erzählen, dass es bei Müttern genauso sein kann.

Fragen der Wahrnehmung spielen in „Little Joe“ eine große Rolle. Die Charaktere streiten darüber, ob die Blume wirklich gefährlich ist oder ob doch alles nur Einbildung ist.
In Filmen gibt es ja das wiederkehrende Motiv der verrückten Frau. Bisher haben solche Filme größtenteils Männer gemacht, es gab einen hauptsächlich männlichen Blick auf diese Frauen. Auch wenn das oft sehr einfühlsame Werke waren, haben sie allesamt eins nicht verstanden: Das Verrückte ist eigentlich, dass diese vermeintlich verrückten Frauen recht haben mit dem, was sie sagen und sehen. Und das ist eine Erkenntnis, die sich noch lange nicht rumgesprochen hat. Wir urteilen immer noch in den Kategorien „hysterische Frau“ – „rationaler Mann“. Und ich fand es deshalb lustig, in meiner Geschichte diese Frau zu einer sehr sachlichen, faktenorientierten Person zu machen, von der ich bis zum Schluss nicht weiß, ob sie diejenige ist, die recht hat.

Erstaunlich sind in deinem Film Kamerafahrten, die während der Dialoge nicht auf die Sprechenden, sondern auf den Raum zwischen den Menschen fokussieren.
Es ist unheimlich, wie wenig wir einander eigentlich verstehen, obwohl Kommunikation unser täglich Brot ist. Zwei können miteinander reden und noch lange nichts dabei verstehen. Die Kamera als Erzählerin der Geschichte ist außerdem auch nicht allwissend – das wollte ich ebenfalls zeigen. Ich wollte Verunsicherung herstellen. Das ist etwas, worum es bei allen meinen Filmen geht – dass es widersprüchliche Wahrheiten oder Antworten gibt oder eben gar keine. Die Kamerabewegungen schaffen den unsicheren Grund, auf dem das Publikum wandert.

Die italienische Regisseurin Lina Wertmüller – die erste Frau, die jemals für den Regie-Oscar nominiert wurde – bekam kürzlich den Ehrenpreis der amerikanischen Academy. Wie beurteilst du die aktuellen Geschehnisse in der Filmbranche? Gibt es einen „feminist turn“ oder sind das nur Verlegenheits- und Alibiaktionen? Soll man überhaupt nach dem Lob patriarchaler Institutionen streben?
Das ist natürlich eine grundsätzliche Fragestellung. #MeToo hat auf jeden Fall vieles bewegt und insofern bin ich jeden Tag dankbar, dass diese Bewegung stattfindet und es so ein enormes Echo gibt. Als die Geschichten über Harvey Weinstein herauskamen und sich so viele Frauen solidarisierten, sind mir die Tränen gekommen, weil ich nicht dachte, dass in meiner Lebenszeit noch irgendjemanden diese himmelschreienden Ungerechtigkeiten interessieren würden. Ich bin auch froh darüber, dass sich in der Folge einiges ändert, was Filme angeht. Institutionell heißt es ja immer: „Wir urteilen nach Qualität und nicht nach Geschlecht.“ Das stimmt nicht. Urteile entstehen anhand vorgefasster Meinungen. Jedes Urteil basiert darauf, was andere zuvor gut fanden und was die Gemeinschaft einer Gesellschaft für gut befindet. Und diese Parameter infrage zu stellen, ist das Schwierige. Ich kann mich noch an mein Filmstudium zurückerinnern, als man einfach bestimmte Filme toll fand, und ich dachte mir: Na ja, die findet ihr toll, ich nicht. Warum muss ich als Filmstudentin etwa eine Verfolgungsjagd inszenieren? Das hat mich nie interessiert. Bei der Übung bin ich eh durchgefallen. Das galt aber als „Filmsprache lernen“. Wenn im Kino so etwas kommt, gehe ich aufs Klo, weil ich so gelangweilt bin. Das war ganz eindeutig eine männliche Vorliebe, die aber als solche nicht hinterfragt war. Doch je mehr Filme von Frauen das Label „gut“ bekommen, desto mehr werden sich unsere Sehgewohnheiten verändern. In einigen Jahren sagt man über einen Film, von dem es vielleicht früher hieß, dass er nicht funktioniert: „Was für ein origineller Geniestreich!“ Auf den Moment warte ich noch. Aber er ist im Kommen.

Little Joe – Glück ist ein Geschäft A/UK/DE 2019. Regie: Jessica Hausner. 105 Min.

Von Nadia Shehadeh
Illustration: Carmen Reina

Guter Dinge streife ich meist durch die wirklich diversen Timelines meiner Social-Media-Accounts, freue mich über intersektional-feministische Postings und bin stolz auf meine gepflegte netzfeministische Bubble und dann … Ja, und dann kann es passieren, dass ein heteronormativer Tweet oder eine für cis Heten typische Insta-Story mein adrettes Internet versemmelt. Igitt! Viel zu oft ist in meinem eigentlich soliden feministischen Internet die Rede von „dem Mann“, und seit Kurzem auch von „dem boi“. „Der Mann“ und „der boi“

werden gerne dann ausgepackt, wenn versteckt ein Lob ausgesprochen wird („Der boi ist heute früh schon los, um Brötchen zu kaufen“). Neckisch wird auf Unzulänglichkeiten angespielt, die aber trotzdem irgendwie „voll süß“ sind („Der Mann findet Wasabi-Nüsse zu scharf“). Kurzum: „Der Mann“ und „der boi“ sind perfide Verniedlichungstaktiken zur Verschleierung patriarchaler Verhältnisse im eigenen cis hetero Paarungszustand. Ich glaube, niemand denkt sich etwas Schlimmes dabei, aber der Trend, seinen Partner „den boi“ oder „den Mann“ zu nennen, muss einfach aufhören.

Missy Magazine 06/19, Kolumne
©Carmen Reina

Doch ich würde nicht mit dieser Forderung um die Ecke kommen, wenn ich nicht eine Al- ternative im Hemdsärmel hätte. Vor Jahren hatte ich eine Arbeitskollegin, die immer ganz lakonisch von ihrem Ehepartner sprach. Er war – ebenso wie „der Mann“ und „der boi“ – namenlos, hatte aber den besseren Kosenamen. Er war einfach: „der Alte“. Nicht aus Gründen der Altersdiskriminierung, sondern damit sie ihn strategisch in seine Schranken verweisen konnte. Das Interessante war, dass diese Arbeitskollegin sich selbst nicht für eine Feministin hielt, aber undercover eine feministische Heten-Heldin war – zumindest für mich. „Der Alte will heute Nachmittag mit unserem Kleinen schwimmen gehen“, seufzte sie z. B. „Der wird wahrscheinlich schon in der Um- kleide merken, dass er die Hälfte zu Hause vergessen hat.“ Oder sie verkündete nach einem besonders anstrengenden Tag: „Der Alte soll später mal schön was zu Essen holen!“ Wenn ihr Telefon vibrierte, schaute sie manchmal entnervt auf das Display. „Der Alte ruft an“, verkündete sie dann augenrollend und dampfte ins Nebenzimmer ab, um ungestört Arbeitsaufträge ins Handy zu diktieren. Ja, auch diese Geschichten waren natürlich heteronormativ, aber sie waren es auf eine Art, die es für mich erträglich machte. So wurde der Partner gar nicht erst auf einen übertriebe- nen Podest der Süßheit gehoben. „Der Alte“ war der Zauberterminus, der die Absurditäten des berühmten „Mental Loads“ – der unsichtbaren Arbeit des Mitdenkens, die im Patriarchat immer den als weiblich gelesenen Personen untergejubelt wird – unterstrich. Wen man nicht verniedlicht, den muss man auch nicht die ganze Zeit für jeden selbstverständlichen Pups in den Himmel loben. Deswegen plädiere ich dafür, „der Mann“ und „der boi“ endlich von der Vokabelliste zu streichen. Der Effekt wird groß sein. Und meine Timeline wieder adrett!

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

Von Aditi Dixit und Silva Lieberherr
Illustration: Riikka Laakso

Am 5. August dieses Jahres hat Indien die Teilautonomie des Bundesstaats Jammu und Kaschmir aufgehoben, Zehntausende weitere Soldat*innen (die Zahlen variieren) in die Region verlegt und sich damit selbst zur Besatzungsmacht gemacht. Während Frauen in Kaschmir den Übergriffen dieser Armee ausgesetzt sind, argumentiert die von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Partei (BJP) gestellte indische Regierung, ihre Besatzung befreie die Frauen. Als ebendiese Regierung den Artikel 370 der indischen Verfassung aufhob, auf dem die Teilautonomie von Jammu und Kaschmir gründete, rechtfertigte der Außenminister Subrahmanyam Jaishankar dies mit dem „Streben nach besserer Regierungsführung und schnellerer Entwicklung“ für die Region. Außerdem, so

Jaishankar weiter, verweigere Artikel 370 „kaschmirischen Frauen sozioökonomische Gerechtigkeit in Bezug auf das Recht auf Eigentum und Ehe“.

Missy Magazine 06/19, Real Talk
©Riikka Laakso

Gemäß Artikel 370 ist es nämlich nur den Bürger*innen von Jammu und Kaschmir erlaubt, Land oder Immobilien im Bundesstaat zu besitzen. Frauen, die mit Nicht-Kaschmiris verheiratet sind, und ihre Kinder verlieren dieses Recht – im Gegensatz zu kaschmirischen Männern. Obwohl es ähnliche Gesetze in einigen anderen Bundesstaaten gibt, sind sie der rechten BJP nur in Kaschmir ein Dorn im Auge. Ein Grund dafür ist, dass Jammu und Kaschmir der einzige indische Bundesstaat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit ist und die Abschaffung dieser „Sonderrechte“ für Muslim*innen bereits im Jahr 2014 eines der Wahlversprechen der BJP war. Jammu und Kaschmir ist seit der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht 1947 ein umkämpftes Gebiet und bezeichnet den von Indien besetzten Teil der Region Kaschmir, die zwischen Pakistan, China und Indien aufgeteilt ist. Der Bundesstaat Jammu und Kaschmir bestand bis August aus den Regionen Jammu, dem Kaschmirtal und Ladakh; Ladakh soll nun aber abgespalten werden. Während die Bewohner*innen von Jammu mehrheitlich Hindus sind, ist das Kaschmirtal mehrheitlich muslimisch. In diesem Artikel bezeichnet Kaschmir der Einfachheit halber das von Indien besetzte Kaschmirtal.

Dass nun die BJP angeblich wegen der Frauenrechte den Artikel 370 abschafft, ist absurd. Denn gleichzeitig freuen sich Politiker der BJP öffentlich darüber, dass es nun einfacher geworden sei, kaschmirische Frauen zu heiraten. So behauptete beispielsweise der Mi- nisterpräsident des nordindischen Bundesstaats Haryana, Manohar Lal Khattar: „Gewisse Leute sagen, da Kaschmir jetzt offen ist, könnten Bräute von dort hergebracht werden.“ Khattar machte diese Bemerkung auf einer Veranstaltung, wo er sich zudem beunruhigt darüber äußerte, dass in Haryana zu wenige Frauen leben würden. Grund für dieses Geschlechterungleichgewicht sind, wie in vielen indischen Bundesstaaten, illegale geschlechtsspezifische Abtreibungen. Das patriarchale System führt dazu, dass Söhne einen höheren Stellenwert haben als Töchter, auch weil Töchter die Familien mit der Heirat verlassen und ihre Familien dafür eine sehr hohe Mitgift zahlen müssen. Weil so viele weibliche Föten abgetrieben werden, fehlen Indien offiziellen Zahlen zufolge 63 Millionen Frauen. Da aber Söhne unbedingt verheiratet werden sollen, führt dies vielerorts zu Frauenhandel – auch in Haryana.

Die Frauen aus dem nordindischen Kaschmir gelten als besonders hellhäutig und schön. In der indischen Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht patriarchal und rassistisch ist, gilt: je heller, desto wertvoller. Da überrascht es nicht, dass Internetrecherchen zur Heirat mit Frauen aus Kaschmir seit August angestiegen sind. Eine junge Kosmetikerin aus Kaschmir sagte zum Nachrichtensender Al Jazeera: „Die Art und Weise, wie kaschmirische Frauen in Indien täglich exotisiert und zu Objekten degradiert werden, hat das Gefühl vieler Frauen verstärkt, als Beute betrachtet zu werden.“ Die wenigen Berichte von Frauen, die im Moment von Kaschmir nach außen gelangen, lassen erahnen, wie fatal die Situation ist. In Srinagar, einer Stadt in Kaschmir, berichten Frauen von ihrer Angst vor der Polizei. „[Der Polizeichef] kommt mitten in der Nacht, überfällt unsere Häuser, attackiert Frauen und belästigt sie, vor allem wenn er betrunken ist“, erzählt eine von ihnen der indischen On- linezeitung „newsclick“. Derselbe Polizeichef habe auch ein behindertes Mädchen angegriffen. „Er rasselte an unserem Tor, schleppte sich hinein und bedrohte uns“, er- innert sich ihr Vater. Die neue Gesetzeslage in Kaschmir verstärkt den Verdacht, dass die BJP die demografische Zusammensetzung der Region verändern will. Die Partei strebt ein hinduistisches Indien an, in dem sich Muslim*innen anzupassen haben. Ein Bundesstaat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit bedroht diese Vision. Ein ungehinderter Zugang für Inder*innen, deren Mehrheit hinduistisch ist, zu Land und Immobilien in Kaschmir hilft der Regierung dabei, die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern.

Der Kaschmirkonflikt hat eine lange Geschichte. Während der Teilung der ehemaligen britischen Kolonie versuchte Kaschmir, zunächst unabhängig zu bleiben. 1947 schloss sich das damalige Fürstentum, das von einem hinduistischen König regiert wurde, aus Angst vor einem Angriff Pakistans an Indien an. Allerdings wurden spezielle Bedingungen für den Anschluss an Indien verhandelt, die später von einem demokratisch gewählten Parlament abgesegnet wurden. Das führte zum erwähnten Verfassungsartikel 370, welcher Jammu und Kaschmir eine eigene Verfassung gibt und den Bürger*innen dieses Bundesstaats exklusive Rechte auf Grundeigentum, Bildung und Arbeitsplätze garantiert. Indien bekam lediglich die Oberhoheit über Außenpolitik, Kommunikation und Verteidigung. Rechtlich können diese Sonderbestimmungen nur durch einen Volksentscheid der Bürger*innen von Jammu und Kaschmir widerrufen werden.

Der indische Staat umging diese formale Autonomie im Laufe der Zeit immer stärker. 1987 spitzte sich die Situation zu, als Indien die Wahlen in Jammu und Kaschmir zugunsten von proindischen Parteien manipulierte. Dies wurde zu einem Wendepunkt in der Geschichte Kaschmirs. Die Manipulation führte zu Widerstand und die indische Regierung sah sich veranlasst, die Militärpräsenz in Kaschmir massiv zu erhöhen. Seit 1990 unterliegt Jammu und Kaschmir dem „Armed Forces Special Powers Act“, der den Sicherheitskräften mehr Freiheit einräumt und zu Gewalt und Menschenrechtsverletzungen führt. Auch Frauen wurden Opfer von massiver Gewalt durch die Armee. So gibt es mittlerweile Beweise für Massenvergewaltigungen kaschmirischer Frauen durch Mitglieder der indischen Streitkräfte. Ein bekanntes Beispiel sind die Dörfer Kunan und Poshpora, wo 1991 über dreißig Frauen von Soldaten vergewaltigt wurden. Unter diesen Bedingungen wurde die öffentliche Unterstützung für eine vollständige Unabhängigkeit Kaschmirs immer stärker: Azad Kashmir – Freies Kashmir – ist ihr Schlachtruf, der sowohl von der bewaffneten Wider- standsbewegung wie auch von großen Teilen der Bevölkerung Kaschmirs gestützt wird.

Die Aufhebung des Artikels 370 durch die indische Regierung ist trotz der langen Geschichte der Unterdrückung ein neuer Höhepunkt der Missachtung des Autono- miestatus von Jammu und Kaschmir. Die Reihe von verfassungsrechtlich zweifelhaften Schritten, die zur Aufhebung von Artikel 370 führten, wurden vom Juristen Rajeev Dhawan als „absichtlich gegen Treu und Glauben verstoßend“ bezeichnet. Er und viele andere Jurist*innen argumentieren, dass die Grundlage des Beitritts von Jammu und Kaschmir zu Indien damit beseitigt worden sei und sich Indien so offiziell zur Besatzungsmacht dieser Region gemacht habe. Zusätzlich versucht die rechte BJP-Regierung, jegliches Bestreben für ein „freies Kaschmir“ mit dem Kampf der von Pakistan unterstützten militanten islamistischen Gruppen gleichzusetzen, um ihr hartes Vorgehen gegen den Widerstand zu rechtfertigen.

Seit Anfang August wurden unter dem Vorwand der Sicherheitsverwahrung Tausende Menschen in ihren Häusern verhaftet und seither illegal festgehalten. Die indische Regierung selbst gibt an, sie hätte im August fast 4000 Menschen festgenommen, die meisten von ihnen, weil sie angeblich Steine warfen, andere sogar präventiv. Die Nach- richtenagentur Reuters gibt zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Texts an, dass davon noch 1200 in Haft sind. Viele der Inhaftierten erzählten der Presse, dass sie von indischen Streitkräften schwer gefoltert wurden. Kaschmiris, die es wagten, auf der Straße zu pro- testieren, wurden von den Sicherheitskräften mit Gummischrot beschossen und bekamen trotz zum Teil schwerer Schussverletzungen keine medizinische Versorgung.

Die Belagerung der Region geht einher mit einer fast vollständigen Blockade der Internet- und Telefonverbindungen und einer strikten nächtlichen Ausgangssperre. Die wenigen Berichte, die nach außen gelangen, legen dennoch eine lange Liste von Vorfällen brutaler Unterdrückung offen. Bereits am Vorabend der Abschaffung von Artikel 370 wurden viele der wichtigsten politischen Akteur*innen aus Kaschmir unter „präventiven“ Hausarrest gestellt. Später wurden weitere hochrangige Politiker*innen wegen angeblicher aufrührerischer Bemerkungen und sezessionistischer Ideologie unter Hausarrest gestellt oder verhaftet. Indischen Politiker*innen anderer Parteien als der BJP wird die Einreise nach Kaschmir verweigert, und politische Versammlungen sind ebenfalls verboten, es sei denn, sie sind von der BJP organisiert. Dennoch gibt es vor Ort lebendige Widerstandsstrukturen. Viele junge Frauen wehren sich gegen die Unterdrückung und unterstützen Frauen, die Opfer der Besatzung wurden oder die ihre Söhne oder Ehemänner verloren haben. Eine von ihnen, Sabiya Dar, die bei der Vereinigung von Eltern verschwundener Personen aktiv ist, sagt, dass es viel mehr Aktivist*innen gebe, die aber wenig sichtbar seien. „Themen wie Menschenrechtsverletzungen sind der Regierung nicht genehm. Viele Menschenrechtsverteidiger*innen wollen ungenannt bleiben, weil es ihnen hilft, ihre Arbeit anonym zu machen, ohne von den staatlichen Behörden bestraft zu werden – das kann tägliche Schikane sein oder sogar Inhaftierung“, erzählt sie der indischen Zeitung „The Citizen“.

In einer kürzlich veröffentlichten Erklärung haben sich fünfhundert Aktivistinnen, Schriftstellerinnen und Akademikerinnen aus Indien und dreißig weiteren Ländern mit den Frauen in Kaschmir solidarisiert. Sie haben eine Erklärung veröffentlicht, die klarstellt, dass „Frauen in Kaschmir an vorderster Front gekämpft haben. Für Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Rechenschaftspflicht bei den weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen, insbesondere bei sexueller Gewalt und dem Verschwinden von Personen“. Im Moment ist kein Ende der Belagerung Kaschmirs in Sicht.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

Interview: Marie Serah Ebcinoglu
Foto: Natalie Rose Dodd

Was gefällt dir an deinem Beruf?
Mein Kollege David und ich arbeiten bei dem Bildungskollektiv BiKoBerlin im Bereich der sexuellen Bildung. Von Workshops mit Schüler*innen und Pädagog*innen bis zur Ausbildung von Menschen zu Sexualpädagog*innen bieten wir vieles an. Ich habe durch ein Praktikum bei Pro Familia dieses Arbeitsfeld und so meinen Berufswunsch entdeckt. Mit dem Projekt Vulvinchen versuche ich außerdem, künstlerisch die immer noch tabu- isierte Vulva im öffentlichen Raum sichtbarer zu machen. Ich finde es spannend, Menschen zuzuhören, wenn sie über sexualitätsbezogene Themen sprechen. Oft ist mein Job berührend, manchmal traurig und oft macht er mich auch wütend. Aber vor allem macht er verdammt viel Spaß.

Missy Magazine 06/19, workworkwork
©Natalie Rose Dodd

Was gefällt dir nicht so gut an deinem Beruf?
Es gibt noch so viel zu tun. Ich habe manchmal das Gefühl, vor einem riesigen Berg aus Klischees und Vorurteilen zu stehen. Ich muss oft gegen konservative gesellschaftliche Werte ankämpfen und frage mich manchmal, ob meine Stimme überhaupt etwas verändert. Gerne würde ich mehr Energie in sexpositive Themen stecken.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/19.

 

Von Debora Antmann

Zunächst einmal nachträglich an alle: Happy Hanukkah!
Aber weil es euch vermutlich nicht entgangen ist und auch ich mich dem christlichen Kalender nicht entziehen kann: Zeitgleich war auch dieses nervenaufreibende Fest namens Weihnachten. Und wie jedes Jahr scheint dieses Event nicht denkbar ohne erheblichen emotionalen Rummel.

Weihnachten am Rande des Nervenzusammenbruchs
Alle Jahre wieder pilgern alle wie selbstverständlich zu ihren Familien, als sei es eine Art gottgegebener Zwang. Egal, wie schwierig das Verhältnis ist. Und die Sozialen Medien sind dann voll von diesem Leid. Der Rest, der sich das nicht antut, hält sich wahrscheinlich bis 31.12. raus oder so. Und ich will nicht sagen, dass der Struggle nicht real ist. Ich weiß, dass z. B. gerade für Queers Familienzusammenkünfte die normative Hölle sein können, aber diese Weihnachtsselbstkasteiung hat noch mal eine ganz andere Qualität: 
Dieses ganze Weihnachtsdrama, das sich innerhalb und außerhalb der Sozialen Medien aufbaut, dass besondere Hilfsangebote konzipiert werden, dass alle durchdrehen, weil sie zur Familie „müssen“ oder weil sie nicht gehen und deswegen nervlich am Ende sind, das alles, diese ganze Überhöhung von Weihnachten und wie wir das in feministischen und queeren Kontexten reproduzieren, ist – falls ihr das noch nicht wusstet – christlich-normativer Bullshit! Wie gesagt, ich sage nicht, dass der Schmerz nicht real ist, aber ich sage schon, wir befeuern ihn auch mächtig und reproduzieren hier gleichzeitig ordentlich. Ich habe noch nie erlebt, dass für Pessach oder Opferfest reihenweise DMs auf Twitter geöffnet wurden, aber dazu später mehr. Dieser Ausnahmezustand jedes Jahr ist Teil christlicher (Leidens-)Kultur. Auch die damit einhergehende Überhöhung von „biologischer Familie“ ist ein sehr weißes und sehr christliches Konzept.

©Tine Fetz

Gesellschaftskritik an Weihnachten ist für wc*-Deutsche Volksverhetzung
Doch das ist nur ein Teil des (emotionalen) Problems. Denn wenn marginalisierte Positionen, die nicht christlich sozialisiert sind, um die Weihnachtszeit herum darauf hinweisen, wie belastend genau diese Zeit ist, weil man mit christlicher Normativität quasi erschlagen und emotional unter Druck gesetzt wird, werden wc-Deutsche rasend. Erzählt eine Jüdin, wie belastend Nikolaus als Kind für sie war, weil im Gegensatz zu Weihnachten zu diesem Zeitpunkt noch alle Kids in der Schule sind und nix abgefangen wird: WUT. Wird darauf hingewiesen, vielleicht lieber „fröhliche Feiertage“ statt „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen: WUT. Weist man auf die Überemotionalisierung von Weihnachten hin: WUT. Das Problem, abgesehen davon, dass hier die Dominazkultur ordentlich kickt, ist vor allem, dass wir hier in eine Schiene geraten, der sich auch die Rechte bedient: die Verteidigung „der abendländischen Kultur“. Gerade die Panik um Weihnachten wird genutzt für rechte Propaganda. Hier hervorragend zusammengetragen von den „Belltower News“. Weihnachten nicht als Norm zu setzen und damit nicht ständig ohnehin schon marginalisierte Menschen zu othern, nimmt niemandem etwas weg. Im Gegenteil, es schafft mehr Raum statt weniger. Niemand muss auf Weihnachten verzichten.

Universalisierung von Trauer und Schmerz
Natürlich wird Menschen, die nicht christlich sozialisiert sind und die auf die Überemotionalisierung von Weihnachten (und ja, hat bestimmt nix damit zu tun, dass Jesus an dem Tag geboren wurde) hinweisen, seit Jahrzehnten unterstellt, sie hätten nie Verluste und Schmerz erfahren (jede Person, die meine Arbeit ein bisschen verfolgt, weiß, dass das weit weg von meiner Lebensrealität ist) oder ihnen wird vorgeworfen, sie seien empathielos, gefühlskalt, arrogant. Und ich wiederhole noch mal: Ich spreche niemandem den eigenen Schmerz ab. BUT: Es muss Teil feministischer Praxis werden, diesen Weihnachtsschmerz kritisch zu reflektieren. Denn auch wenn der Schmerz natürlich ein individueller ist und valide, in seiner Form ist er das nicht, auch wenn das schwer zu ertragen ist. Denn natürlich ist es Teil christlicher Narrative, dass wir davon ausgehen, dass Leid, Trauer, Schmerz, Einsamkeit an Weihnachten besonders zum Tragen kommen. Deswegen wird an diesen Tagen mehr gespendet als im restlichen Jahr. Das Problem ist die Annahme, dass dies in irgendeiner Form universell wäre. Und wc-Deutsche ertragen den Gedanken einfach nicht, dass es nicht so ist.
Leute, die nicht christlich sozialisiert sind, drehen zu Weihnachten nur nicht so emotional ab, vielleicht tun sie es nicht mal an anderen Feiertagen, weil der Umgang mit Tod, Trauer, Verlust, Schmerz, Familie, Entfernung ein anderer ist und eine andere Tradition hat. Das heißt, nicht nur die Überemotionalisierung von Weihnachten ist ein christliches Ding, vielleicht sogar die Überemotionalisierung von Feiertagen generell. Weil man es sich leisten kann. Schon mal darüber nachgedacht? Wir haben andere Dinge, bei denen wir emotional abgehen – versprochen, aber das was ihr an Weihnachten empfindet, ist nicht universell. It’s not our cup of tea. Und ihr müsst aufhören, so zu tun, denn wenn uns die Geschichte eines gelehrt hat, dann, dass der Glaube an christlichen Universalismus vor allem eines ist: toxisch.

The Pressure is High!
Jetzt könntet ihr natürlich sagen, dann ignoriert uns doch einfach, zwingt euch ja keiner. Habt ihr schon mal versucht Dominanzkultur zu ignorieren? Sie wäre keine Dominanzkultur, wenn sie das zulassen würde. Und das Gemeine mit dem Weihnachtsemo-Drama ist, dass es so selbstverständlich, raumerfüllend, übergriffig ist – selbst in unseren feministischen Communitys, dass du dich nicht entziehen kannst. Es fängt mit der Frage an, was du an Weihnachten machst, und wenn du „nix“ sagst, alle dich zu sich einladen wollen, weil es gar keine Vorstellung davon gibt, dass es dir nicht doch zumindest in der hintersten Ecke deines Herzens ein kleines bisschen wehtut, dass du Weihnachten alleine verbringst. Und wenn dir das über fünf, sechs Jahre 20 bis 25 Mal passiert, bist du dir irgendwann selbst nicht mehr so sicher, weil der (Assimilations-)Druck so hoch ist, dass es dich gefälligst zu schmerzen hat. Wenn deine Bubble erfüllt ist von Support-Angeboten und Zuspruch und du dich plötzlich schlecht fühlst, dass du an Weihnachten nicht deine helfende Hand für all die leidenden Queers ausstreckst, die gezwungen werden, die Feiertage mit ihren Familien zu verbringen, und du die Qualen quasi schmecken kannst und dir erst dann auffällt, wer diese leidenden Queers sind, weiße christlich sozialisierte Queers, die an Weihnachten nach Hause fahren. Und niemand fragt: „Warum?“. Scheinbar ein Naturgesetz. Es ist legitim, das zu tun, zu Eltern und Familie zu fahren, sich den Mist zu geben, aber diese Leidenserzählung dazu ist halt ein krasses christliches Narrativ, denn offensichtlich wäre es noch schlimmer, Weihnachten alleine zu Hause zu verbringen, und das ist ja mal christlicher Bullshit. Aber es produziert diesen wabernden (Leidens-)Druck, der so allumfassend ist, dass es selbst für nicht-christlich Sozialisierte manchmal schwer ist zu verstehen, was da gerade passiert und warum man bestimmt Dinge gerade tut, die nix mit einem selbst zu tun haben, die sich eher ritualisiert als emotional anfühlen, aber der Druck ist hoch und Weihnachten ist ein Minenfeld, in dem man sowieso nur alles falsch machen kann, wenn man als nicht-christlich sozialisiertes, als „fremdes“ Kind hier aufwächst.

Weihnachten ist ein toxischer wc-Zirkus, der zur Raubtier-Show wird, wenn man wagt, das laut auszusprechen!

*wc= weiß, christlich sozialisiert